Junge Menschen kommen zu Wort
Eigentlich studiere ich drei Stunden mit dem Zug entfernt von meiner Heimatstadt Berlin. Seit dem Beginn der Pandemie vor fast einem Jahr haben sich die Dimensionen jedoch komplett verdreht. Meine Familie und Freunde aus Berlin fühlen sich plötzlich viel weiter entfernt an, ganz zu schweigen von Freunden im Ausland. Aber nicht nur hier scheint sich eine neue Art Entfernung eingeschlichen zu haben, sondern auch an meinem Studienort. Einige Freunde sehe ich kaum bis gar nicht mehr, andere viel öfter als vorher. Neulich habe ich in einer der Werkstätten an meiner Uni angerufen und statt der Werkstattleiterin ist unerwarteter Weise mein Kommilitone drangegangen. Wir hatten bislang nie viel miteinander zu tun. In dem Moment habe ich mich aber so gefreut, endlich mal wieder mit jemand anderem als den Leuten aus meinem Corona-bedingten Freundeskreis ein Gespräch führen zu können, sodass wir bestimmt eine halbe Stunde lang telefoniert und uns auf den neusten Stand gebracht haben. Dabei ist mir wieder bewusstgeworden, wie inspirierend und unverzichtbar die spontanen Treffen in der Hochschule waren und wie sehr die Online-Lehre einschränkt.
Auch auf anderen Ebenen beobachte ich neuentstandene Entfernungen und Verschiebungen: Menschen, bei denen ich mir vorher sicher war, dass wir die gleichen Überzeugungen und Einstellungen haben, stehen zu der aktuellen Situation ganz unterschiedlich. Zu Corona haben politisch unterschiedlich eingestellte Leute auseinandergehende Meinungen. Ich habe das Gefühl, dass jede*r auf die eigene Art versucht mit der Situation zurechtzukommen.
Für mich fühlt es sich an, wie noch einmal Erwachsenwerden: Aufwachen. Feststellen, dass nichts so ist, wie es scheint. Wer hätte sich vor einem Jahr vorstellen können, dass das Jahr 2020 so wird, wie es kam? Das kann angsteinflößend sein und man braucht ein gutes Umfeld und Menschen, die einem Halt geben. Ich kann mir vorstellen, dass vielen von denen, die Corona leugnen, genau diese Stärke und Unterstützung fehlt. Wir leben in ganz schön schwierigen Zeiten und Menschen versuchen sich an unterschiedliche Ideen zu klammern, um mit diesen klarzukommen. Vor ein paar Monaten habe ich einen Vortrag von der brasilianischen Psychoanalytikerin Suely Rolnik gesehen, der mich sehr inspiriert hat: In unserer Gesellschaft gibt es die Tendenz, zu der alten Normalität so schnell wie möglich zurückkehren zu wollen. Diese alte Normalität existiert so aber nicht mehr, denn wir befinden uns in sich ständig wandelnden Zeiten. Wenn wir immer nur versuchen, zurück zur alten Welt zu gelangen, verschenken wir das Potenzial, uns eine neue, bessere Welt vorzustellen. Wir sind „On the edge of one world that doesn’t exist anymore and a world that doesn’t exist yet.” (Suely Rolnik, 01.07.2020, Vortragsreihe Freie Kunst, HfK Bremen). Wenn wir diesen fragilen Status jedoch aushalten, können wir vieles zum Positiven verändern.