Zur Kritik der Entkonkretisierung der Schoah
Von Orten des Gedenkens und der Erinnerung an die Schoah wird erwartet, dass sie demokratisierend wirken. In den immer wiederkehrenden öffentlichen Debatten über sogenannte Pflichtbesuche in Gedenkstätten, wird latent ein Nutzen unterstellt, der über die historische Bildung zum Selbstzweck hinausgeht. Die jüngsten Debatten um sogenannte Pflichtbesuche lösten die damalige Staatssekretärin Sawsan Chebli (2018) und die damalige CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (2019) aus. Man verspricht sich etwa, dass eine Schulklasse nach dem Besuch einer KZ-Gedenkstätte von der antisemitischen Ideologie gefeit sei, von Menschen mit Migrationsgeschichten erhofft man sich dadurch eine bessere Integration und überzeugte Antisemiten sollen durch den Besuch geläutert werden. Die bisweilen naive Erwartungshaltung an den Gedenkstättenbesuch entspricht einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz, einer „Wiedergutwerdung“ beziehungsweise Katharsis durch die Erinnerung an die Schoah. Die Barbarei des Nationalsozialismus soll das Negativ sein, vor dem die Demokratie umso heller erstrahlt. Allerdings sind historische und politische Bildung zweierlei unterschiedliche Dinge. Unbenommen, dass es versierte Angebote politischer Bildung an primär historischen Lern- und Erinnerungsorten gibt und umgekehrt (vgl. Mendel/Rhein/Uhlig 2020). Das eine lässt sich nicht auf das andere reduzieren. Die Begegnung mit dem Historischen führt nicht notwendig dazu, es zu reflektieren, sich selbst dazu in Beziehung zu setzen.
Von Orten des Gedenkens und der Erinnerung an die Schoah wird erwartet, dass sie demokratisierend wirken. In den immer wiederkehrenden öffentlichen Debatten über sogenannte Pflichtbesuche in Gedenkstätten, wird latent ein Nutzen unterstellt, der über die historische Bildung zum Selbstzweck hinausgeht.
Die Erwartungshaltung an die Erinnerungskultur führt allerdings regelmäßig dazu, dass sie als pädagogisches Allheilmittel der Demokratiebildung diskutiert wird. Im Kontext dieser Überfrachtung drängt sich aber auch immer wieder die Skepsis auf, ob deutsche Erinnerungskultur alle im gleichen Maße anspricht – insbesondere Menschen in Deutschland mit außereuropäischen Migrationsgeschichten. Die vermeintliche Dringlichkeit dieser Fragestellung scheint von der Unterstellung getragen, diese Menschen hätten einen besonderen Nachholbedarf in Demokratiebildung. Zudem beinhaltet sie die latente Behauptung, Deutschen ohne Migrationsgeschichten würde es leichter fallen, familiäre oder emotionale Verknüpfungen zur Schoah herzustellen. Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt (2016) konstatiert außerdem: „Der Einfluss, den die Migrationsgeschichte von Eltern oder Großeltern auf gegenwärtige Geschichtsbeziehungen hat, wird tendenziell überschätzt.“ (Ebd., S. 18) Wesentlicher seien die „erfahrenen Geschichtsthematisierungen“. Diese Perspektive steht dem identitärem Fatalismus entgegen, wonach die Biographie zum Schicksal wird.
Moderne Klassiker wie die Studie „Opa war kein Nazi“ (Welzer/Moller/Tschuggnal 2014) weisen jedoch in eine ganz andere Richtung. Welzer und Kolleginnen stellten mit Interviews fest, dass Verklärungen der eigenen Familiengeschichten mit dem zeitlichen generationalen Abstand sogar zu- und nicht abnahmen. Ähnliches brachte der „Multidimensionale Erinnerungsmonitor“ (MEMO) in der Ausgabe 2018 zum Vorschein, als knapp 70 % der Befragten angaben, keine NS-Täter*innen unter den Vorfahren zu haben, wohingegen 18 % glaubten, ihre Vorfahren hätten potenziellen Opfern des NS geholfen (vgl. Zick et al. 2018, S. 11).
Zur Beantwortung der Frage, wie nun gerade Menschen mit Migrationsgeschichten an die „Holocaust Education“ herangeführt werden sollen, werden häufig zwei Argumentationsstränge angeführt: erstens der Verweis auf Transnationalität familiengeschichtlicher Verflechtungen und zweitens die Universalisierung der Schoah. Zur Illustration beider Punkte sei hier der vielbeachtete öffentliche Briefwechsel zwischen der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan und dem Herausgeber des Freitags Jakob Augstein angeführt. Augstein wollte 2017 Foroutan als vermeintlich Unbeteiligte gewinnen, einen Debattenbeitrag zu verfassen, wie man als migrantische Autorin mit der deutschen Schuld umgehe. Die Anfrage geht davon aus, dass es in der Familie Foroutans keinerlei Berührungspunkte mit den nationalsozialistischen Verbrechen gäbe, die Schoah nicht „ihre Geschichte sei“ und sie gewissermaßen aus einer Außenperspektive sprechen könne. In ihrer Antwort gab Foroutan an, der Großvater ihrer deutschen Mutter sei Mitglied der NSDAP und später der SS gewesen (vgl. Foroutan/Augstein 2017). Weiter argumentiert Foroutan, mit der „universalen“ Bedeutung der Schoah: „Der Holocaust ist keine rein deutsche Geschichte, er ist eine Geschichte, die an der Menschlichkeit zweifeln lässt und daher ebenso universal wie die von Kain und Abel.“ (Ebd.)
Universalgeschichte der Schoah
Wenn die Geschichte der Schoah so allgemein ist, wie die von Kain und Abel, wird sie ins allgemein Menschliche gerückt. Sie wird zu einer abstrakten Erzählung, von der ein moralischer Imperativ ausgeht. Nach Natan Sznaider (2016) gibt es allerdings einen Preis der für eine solche Universalisierung zu zahlen ist: „All diese Entwicklungen (der Universalisierung, d. A.) entfernen sich von den jüdischen Opfern des Holocaust, die in dieser kosmopolitischen Perspektive im Namen der ‚Menschheit‘ nochmals geopfert werden.“ (Ebd., S. 15) Dan Diner hat im Begriff des Zivilisationsbruchs die zwei widerstrebenden Aspekte der Schoah als einerseits konkret- und andererseits Menschheitsgeschichtliches zusammengefasst: „Die partikulare Perspektive (im Wort Zivilisationsbruch, d. A.) reflektiert die von Juden als Juden gemachte Erfahrung, allerorts und allein ihrer bloßen Zugehörigkeit, ihrer bloßen Abstammung wegen, also grundlos einer totalen Vernichtung überantwortet zu sein.“ (Diner 2020, S. 15 f.) Es geht hier also um die konkreten Taten, deren Spuren im Gedächtnis und materiell allerorts in Europa noch sichtbar sind. Das historische Ereignis wirkt aber auch maßgeblich verunsichernd auf Gewissheiten des Denkens, sodass Diner der partikularen eine universelle Bedeutung zustellt: „Das Wort vom Zivilisationsbruch will den nachgerade singulären Umstand der Vernichtung von Menschen durch Menschen als Durchbrechung aller bisher als gewiss erachteten ethischen und instrumentellen Schranken von Handeln kennzeichnen. Eine solche Überschreitung markiert einen an der Menschheit verübten Zivilisationsbruch.“ (Ebd., S. 16) Das Fehlen instrumenteller Schranken ist ein bedeutsamer Unterschied zwischen der Schoah und anderen Genoziden, wie etwa der Kolonialherrschaft. Rechtfertigte letztere ihre mörderischen Mittel im Zweck, Wert zu produzieren, ist in der Schoah der Mord zum Selbstzweck geworden. Selbst der Arbeitszwang stand hier im Zeichen der Ermordung, nämlich einer „Vernichtung durch Arbeit“.
Auschwitz ist also gleichzeitig ein Symbol, aber es ist auch ein Ort, am polnischen Oświęcim, dessen Gedenkstätte man besuchen kann. Über die Bedeutung einer Gedenkstättenpädagogik am „authentischen Ort“ hat Verena Haug (2015) geschrieben. Diner betont, dass die konkrete Perspektive häufig die der Opfer ist. Schließlich ist Jüdinnen und Juden die Schoah meist in erster Linie kein abstraktes Verbrechen gegen die Menschheit, sondern eines, das an ihren Familien verübt wurde. Nun ließe sich annehmen, gleiches gelte für die Täter*innen und ihre Nachkommen, da in Deutschland, wie Raul Hilberg einmal sagte, „der Holocaust Familiengeschichte“ ist. Aber wie bereits erwähnt, dominiert bis heute die Verdrängung, sodass eine Entkonkretisierung der Schoah den (unbewussten) Interessen der Tätergesellschaft entgegenkommt. Hannes Heer hat beispielsweise kulturindustrielle Praktiken dieser Konstruktion einer Schoah ohne Täter im Buch „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit (2008) beschrieben. Es besteht die Versuchung, die Ambivalenz im Begriff des Zivilisationsbruchs zu einer Seite hin aufzulösen. Diese Tendenz begleitet die nicht-jüdische, deutsche Erinnerungspolitik, auch seitdem sie Teil staatlicher Verantwortungsrhetorik wurde.
Ablesen lässt sich das etwa an der berühmten Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit dem Titel „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ 1985 zum Jahrestag der Befreiung. Der Titel beinhaltet bereits eine Anmaßung. Weizsäcker greift hier ein jüdisches Sprichwort auf, entkleidet es jedoch seines religiösen Kontextes und bezieht es auf die Deutschen, die sich aus dem Schuldzusammenhang nun selbst befreien können würden: Erlöst werden die Deutschen, wenn sie sich erinnern. Was das genau bedeuten soll, wird im späteren Verlauf der Rede klar. Zunächst wird die Rede – oft als Gründungsdokument der staatstragenden Erinnerungskultur Deutschlands verstanden – der Schrecken des Krieges betrauert, wobei Weizsäcker in seine Aufzählung nicht nur das „Leid um die Toten“, sondern auch das „Leid in Bombennächten, (…) Leid durch Flucht und Vertreibung“ (ebd., S. 32 f.) usw. beklagt. Das Publikum wird beim Leid in Bombennächten sicherlich nicht an die Einwohner*innen Londons und Warschaus gedacht haben und bei Vertreibung nicht an die unzähligen Menschen, die nach dem deutschen Einmarsch flüchten mussten. Die Technik Weizsäckers besteht darin, ein Panorama der Gewalt zu zeichnen, in dem auch die Deutschen als Betroffene ihren Platz finden: Opfer- und Tätergruppen gehen ihm durcheinander, sodass das Leid der Opfer austauschbar wird. Schließlich suggeriert die Rede, hat es die Deutschen vielleicht sogar noch schlimmer getroffen, da sie auch heute noch unter den Kriegsfolgen, nämlich der „Teilung“ leiden würden. Weizsäcker zitiert: „Es lastet, es blutet, dass zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze.“ (Ebd., S. 42) Die entkonkretisierte Anerkennung deutscher Schuld mündet also in Blut-und-Boden-Metaphern, einer Grenze, die aufgehoben gehört.
Die vorgeschlagene Verbindung des Gedenkens und Erinnerns an die Schoah mit anderen Genoziden, besonders der Kolonialherrschaft, scheint von latenten Prämissen getragen, die nicht immer unbedingt haltbar sind.
Womöglich nicht trotz, sondern wegen dieser Widersprüche, die es erlaubten, Schuld in ein positives Selbstbild zu überführen, glauben sich offenbar gegenwärtig weite Teile Deutschlands näher der „Erlösung“ von ihrer Vergangenheit denn je. In der MEMO-Studie 2020 befragt, welches Ereignis sie für das wichtigste in der deutschen Geschichte halten, gaben die Befragten zu 46,4 % Antworten im Kontext der „Wiedervereinigung“ und nur 28,7 % nannten Ereignisse im Kontext des Nationalsozialismus (vgl. Zick et al. 2020, S. 30). Vertraut man also den Daten dieser Umfrage, ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus im Bewusstsein der Deutschen hinter jene an die „Wiedervereinigung“ zurückgetreten. Der instrumentelle Anteil an Weizsäckers Rede, der Welt ein geläutertes Deutschland zu präsentieren, um die sogenannte Wiedervereinigung diskursiv vorzubereiten, findet seinen Widerhall in dieser verschobenen Prioritätensetzung. Dennoch scheint in Deutschland ein Stolz über die Erinnerungsarbeit, manchmal rücksichtslos „Vergangenheitsbewältigung“ genannt, weit verbreitet. Etwa 45–50 % der Befragten aus den MEMO-Studien gaben in den Jahren zwischen 2018 und 2020 an, Deutschland könne anderen Ländern „als Vorbild für eine gelungene Geschichtsaufarbeitung dienen“ (Zick et al. 2020, S. 26).
Es lässt eine Tendenz vermuten, dass nicht nur die Geschichte der Schoah abstrahiert und universalisiert wird, sondern auch die Erinnerung an sie. Der Gedanke taucht zum Beispiel in Michael Rothbergs (2021) Konzept der multidirektionalen Erinnerung auf. Rothberg sieht in der Erinnerung an die Schoah ein Modell für die Erinnerung an andere Genozide, die nicht gegeneinander konkurrieren sollten: „Gegen das Konzept einer Erinnerungskonkurrenz schlage ich das Konzept der multidirektionalen Erinnerung vor, das die Aufmerksamkeit auf die dynamischen Transfers zwischen unterschiedlichen Orten und Zeiten lenkt, zu denen es beim Akt des Gedenkens kommt.“ (Rothberg 2021, S. 36) Nach Steffen Klävers (2021) geht es Rothberg allerdings „nicht um historische Spezifika, sondern vielmehr um allgemeine Kategorien wie Gewalt und Genozid“ (ebd., S. 177). Rothberg universalisiere die Schoah einerseits „als symbolischen Bezugspunkt für ‚das Böse‘“ und behandle sie andererseits „als Ereignis wie jedes andere“ (ebd.).
Meines Erachtens tauchen beide Momente in den Debatten der vergangenen Jahre um postkoloniale Philosophien immer wieder auf, einhergehend mit teils aggressiven Vorwürfen gegenüber einer konkreten, also partikularen Beschäftigung mit der Schoah.
Von der Ruhrtriennale zur Documenta
Im Frühling 2020 wurde mit ungewöhnlich großem öffentlichem Interesse im deutschen Feuilleton über postkoloniale Theorie gestritten. Der renommierte kamerunische Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe sollte bei der Ruhrtriennale den Eröffnungsvortrag halten. Dagegen wurde Kritik laut, denn Mbembe hat verschiedentlich der antisemitischen Boykottkampagne BDS das Wort geredet und in seinen Schriften verschiedentlich Motive der Schoahrelativierung sowie israelbezogenen Antisemitismus bedient (vgl. Mendel/Uhlig 2020). Im Zentrum der Kritik an Mbembe standen Textpassagen wie aus dem von ihm beigesteuerten Vorwort zum Sammelband „Apartheid Israel“ (2015): „To be sure, it is not apartheid, South African style. It is far more lethal. (…) The occupation of Palestine is the biggest moral scandal of our times (…) the time has come for global Isolation.“ (Soske/Jacobs 2015, S. VIII) Auch in einem Aufsatz über „Necropolitics“ (2003) äußerte sich Mbembe ähnlich hyperbolisch: „The most accomplished form of necropower is the contemporary colonial occupation of Palestine.“ (Mbembe 2003, S. 27) Am häufigsten gesprochen wurde wohl aber über Mbembes „Politik der Feindschaft“ (2017). In einem Kapitel schreibt Mbembe über Politiken der Trennung, wobei er sehr Disparates unter diesen allgemeinen Begriff bringt: „Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.“ (Ebd., S. 89) Die vergleichende Subsumption irritiert und ist historisch falsch, denn die Schoah war keine Manifestation eines Trennungs-, sondern eines Vernichtungswahns, jedoch ist Mbembe eindeutig daran gelegen, auch die Unterschiedlichkeit hervorzuheben. Die Schoah wird gewissermaßen zum Superlativ eines allgemeineren Problems universalisiert, die nicht mehr auf Antisemitismus sich beschränken soll. Dass dieses Vorgehen bedenklich werden kann, zeigt sich im Kontext einer vorrangegangenen Passage: „Doch die Metapher der Apartheid reicht nicht aus, um das israelische Trennungsprojekt zu erfassen. Zunächst einmal ruht dieses Projekt auf einem recht einzigartigen metaphysischen und existenziellen Sockel. Die darunterliegenden apokalyptischen Ressourcen und Katastrophen sind weitaus komplexer und geschichtlich viel tiefer verwurzelt als alles, was den südafrikanischen Calvinismus möglich machte.“ (Ebd., S. 85)
Wenn Trennung der gemeinsame Nenner einer Universalgeschichte der Gewalt werden soll, dann steht die israelische Politik unvermittelt in einer Reihe mit der südafrikanischen Apartheid und – folgt man der Argumentation Mbembes weiter – schließlich dem Nationalsozialismus.
Die Ruhrtriennale hat wegen der Corona-Pandemie nicht stattgefunden, aber die Diskussion ebbte nicht ab. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung als Ende 2020 die Initiative Weltoffenheit GG 5.3 ihr Plädoyer veröffentlichte. Das Statement ist online abrufbar unter: www.humboldtforum.org/de/presse/mitteilungen/plaedoyer-der-initiative-gg-5-3-weltoffenheit (Zugriff: 25.09.2022). Die Initiative ist ein Zusammenschluss von Leitungspersonal großer Kulturinstitutionen wie dem Humboldt Forum, dem Goethe Institut oder dem Deutschen Theater. Im Plädoyer legen die Urheber*innen im Anschluss an den Fall Mbembe nahe, der Bundestagsbeschluss von 2019, BDS keine Gelder und Räume zur Verfügung zu stellen, behindere die eigene Arbeit, da „wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen“. Weiter heißt es im Plädoyer: „Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren.“ Die deutsche Erinnerungspolitik erscheint hier als eine Art Spleen, den die Deutschen pflegen, um sich von der Welt abzuschirmen. Diese vermeintliche Selbstprovinzialisierung soll überwunden werden.
Dieser Ansatz durchzog auch die Diskussionen zur documenta fifteen. Auf der Schau in Kassel wurde kurz nach der Eröffnung ein Banner des Kunstkollektivs Taring Padi veröffentlicht, das eindeutig antisemitische Motive zeigte. Dargestellt war unter anderem eine vampirische Figur mit Schläfenlocken, auf deren Hut SS-Runen prangten. Das Werk wurde demontiert und die Gruppe rechtfertige sich in einem Statement: „Unsere Arbeiten enthalten keine Inhalte, die darauf abzielen, irgendwelche Bevölkerungsgruppen auf negative Weise darzustellen. Die Figuren, Zeichen, Karikaturen und andere visuelle Vokabeln in den Werken sind kulturspezifisch auf unsere eigenen Erfahrungen bezogen.“ Dieser Versuch, Antisemitismus kulturrelativistisch zu normalisieren, traf auf eine deutsche Debatte, die eben dies vorbereitete. Wo die Schoah einerseits abstrahiert wird in einer Universalgeschichte der Gewalt, der Trennung oder des Genozids, kann sie symbolisch beliebig angeeignet werden: bis hin zur zynischen Täter-Opfer-Umkehr, wenn Jüdinnen*Juden mit den Symbolen ihrer eigenen Verfolgung und Ermordung behaftet werden. Andererseits kann diese Missachtung des historischen Ereignisses an andere delegiert werden, vornehmlich an verschieden Marginalisierte. Man will die Stimmen unbedingt sprechen lassen, selbst wenn sie Scheußliches sagen.
Konkret erinnern
Die vorgeschlagene Verbindung des Gedenkens und Erinnerns an die Schoah mit anderen Genoziden, besonders der Kolonialherrschaft, scheint von latenten Prämissen getragen, die nicht immer unbedingt haltbar sind. So etwa der Vorwurf, man würde sich selbst provinzialisieren, indem man auf die Singularität der Schoah beharrt. Den Provinzialismusvorwurf bekräftigten etwa Zimmerer/Rothberg (2021) polemisch in der ZEIT. Diese Kritik sieht davon ab, dass dieses Verständnis der Schoah überhaupt nicht aus Deutschland kommt, sondern im Gegenteil international ist und in Deutschland immer wieder abgewehrt wurde. Klassiker der Holocaustforschung wie Raul Hilbergs „Die Vernichtung der europäischen Juden“ oder Franz Neumanns „Behemoth“ wurden in Deutschland erst Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung überhaupt zur Kenntnis genommen. Selbst in so einem versierten Werk wie „Die Unfähigkeit zu Trauern“ von Alexander Mitscherlich und Margarete Mitscherlich-Nielsen war von Antisemitismus kaum die Rede, wie etwa Wolfgang Hegener (2019) jüngst bemerkte. Der Historikerstreit 1986 machte überdies erschreckend deutlich, wie viel Anklang eine geschichtsrevisionistische Nivellierung der Schoah auch im intellektuellen Feuilleton findet. Die sogenannte Erinnerungskultur in Deutschland ist nicht das Resultat eines plötzlichen Reflexionsprozesses der nicht-jüdisch Deutschen, sondern der unermüdlichen Arbeit von Überlebenden und ihren Nachkommen. Insofern war die Erinnerung an die Schoah schon immer transnational, zumeist entgegen bornierter Schuldabwehr der Deutschen.
Wenn in den vergangenen Jahren immer wieder danach gefragt wird, wie Gedenkstättenpädagogik Jugendliche mit Migrationsgeschichten erreichen kann, ist das keine Fragestellung, die dem geschichtlichen Gegenstand inhärent wäre, sondern die an ihn herangetragen wird.
Eine weitere Prämisse ist die Unterstellung, Kritiker*innen von Konzepten wie der multidirektionalen Erinnerung würden den Vergleich der Schoah mit anderen Genoziden tabuisieren. Aus dem Widerstreben, das geschichtlich Konkrete begrifflich zu verallgemeinern, wird dann eine Weigerung, die Schoah in einem weltgeschichtlichen Kontext zu verorten. Brachial äußerte ihn etwa A. Dirk Moses in seinem Aufsatz „Der Katechismus der Deutschen“. Moses schreibt: „Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik. Diesen mit anderen Genoziden zu vergleichen, gilt ihnen daher als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben. Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.“ (Ebd.) Der Text bedient sich einem Vokabular, das man sonst eher in neonazistischen Kreisen vermutet, wo schon lange von einer angeblichen „Holocaust-Religion“ die Rede ist. Verwundern muss der Vorwurf, man könne nicht unbescholten die Schoah mit anderen Genoziden vergleichen, weil die Kontextualisierung doch zur gängigen Praxis der Holocaustforschung seit ihrem Bestehen gehört. Die Kritik richtet sich nicht gegen den Vergleich als geschichtswissenschaftliche Methode, sondern gegen die Nivellierung der Schoah. Diese ist nämlich nicht nur historisch unpräzise, sondern kommt dem Bedürfnis nach Schuldabwehr entgegen. Der erste Historikerstreit wurde von Geschichtsrevisionisten ausgelöst, die behaupteten, die Schoah sei ein Verbrechen wie viele andere oder sogar von ihnen inspiriert. Im sogenannten Historikerstreit 2.0 rund um Rothbergs Buch geht es nun darum, ob die Erinnerung an die Schoah wie die Erinnerung an andere Genozide sein sollte.
Die sogenannte Erinnerungskultur in Deutschland ist nicht das Resultat eines plötzlichen Reflexionsprozesses der nicht-jüdisch Deutschen, sondern der unermüdlichen Arbeit von Überlebenden und ihren Nachkommen.
Zur Einordnung der Diskussionen um die Erinnerung an die Schoah ist es hilfreich, den Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen zu erweitern, in denen diese stattfinden. Sybille Steinbacher, Leiterin des Fritz-Bauer-Instituts, bringt es auf den Punkt:
„Das Gegenwartsgeschehen bestimmt wesentlich unser Verständnis vom Holocaust. Das war auch in den neunziger Jahren so, als die Neugestaltung Europas einsetzte und ethnische Konflikte zunächst auf dem Balkan und bald darauf auch in Ostafrika aufflammten. Dass in der empirischen historischen Beschäftigung mit dem Holocaust damals die Täterforschung einen Boom erfuhr, war wohl kaum ein Zufall. Heute liefern Globalisierung und Migration die Rahmenbedingungen und wirken sich auf unsere Sicht auf den Holocaust aus.“ (Steinbacher 2020, S. 68)
Wenn in den vergangenen Jahren immer wieder danach gefragt wird, wie Gedenkstättenpädagogik Jugendliche mit Migrationsgeschichten erreichen kann, ist das keine Fragestellung, die dem geschichtlichen Gegenstand inhärent wäre, sondern die an ihn herangetragen wird. Mit einer Betrachtungsweise, die von der Geschichte abstrahiert, um leichter biographische Nähe herstellen zu können, würde sich die Pädagogik aber weiter von ihrem Gegenstand entfernen. Die Verbindung ist m. E. woanders zu suchen: Es gibt sie überall in den Lebenswelten der Jugendlichen. In ihren Städten, Dörfern, Straßen, Häusern und Schulen. Ein reflexiver Bezug zur Schoah lässt sich über die Begegnung mit dem historisch Konkreten herstellen und dessen Spuren durchziehen ganz Deutschland.
Zum Autor
tom.d.uhlig@gmail.com
Zeichnerin: Paulina Stulin