Außerschulische Bildung 4/2022

Keine Erinnerung wie jede andere

Zur Kritik der Entkonkretisierung der Schoah

In den Auseinandersetzungen um Holocaust Education in der Migrationsgesellschaft, dem sogenannten Historikerstreit 2.0 und der documenta fifteen geht es immer wieder um die Gleichzeitigkeit der Schoah als Symbol mit universalgeschichtlicher Bedeutung und als konkretes Ereignis. Zugunsten der Vergleichbarkeit und der Identifikation wird derzeit verstärkt plädiert, die Schoah mit anderen Genoziden zusammenzudenken. Der Text diskutiert, was bei diesem Ansatz verlorengeht und warum eine Universalisierung womöglich nicht der geeignete bildungspraktische Zugang ist. von Tom Uhlig

Von Orten des Gedenkens und der Erinnerung an die Schoah wird erwartet, dass sie demokratisierend wirken. In den immer wiederkehrenden öffentlichen Debatten über sogenannte Pflichtbesuche in Gedenkstätten, wird latent ein Nutzen unterstellt, der über die historische Bildung zum Selbstzweck hinausgeht. Die jüngsten Debatten um sogenannte Pflichtbesuche lösten die damalige Staatssekretärin Sawsan Chebli (2018) und die damalige CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (2019) aus. Man verspricht sich etwa, dass eine Schulklasse nach dem Besuch einer KZ-Gedenkstätte von der antisemitischen Ideologie gefeit sei, von Menschen mit Migrationsgeschichten erhofft man sich dadurch eine bessere Integration und überzeugte Antisemiten sollen durch den Besuch geläutert werden. Die bisweilen naive Erwartungshaltung an den Gedenkstättenbesuch entspricht einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz, einer „Wiedergutwerdung“ beziehungsweise Katharsis durch die Erinnerung an die Schoah. Die Barbarei des Nationalsozialismus soll das Negativ sein, vor dem die Demokratie umso heller erstrahlt. Allerdings sind historische und politische Bildung zweierlei unterschiedliche Dinge. Unbenommen, dass es versierte Angebote politischer Bildung an primär historischen Lern- und Erinnerungsorten gibt und umgekehrt (vgl. Mendel/Rhein/Uhlig 2020). Das eine lässt sich nicht auf das andere reduzieren. Die Begegnung mit dem Historischen führt nicht notwendig dazu, es zu reflektieren, sich selbst dazu in Beziehung zu setzen.

Die Erwartungshaltung an die Erinnerungskultur führt allerdings regelmäßig dazu, dass sie als pädagogisches Allheilmittel der Demokratiebildung diskutiert wird. Im Kontext dieser Überfrachtung drängt sich aber auch immer wieder die Skepsis auf, ob deutsche Erinnerungskultur alle im gleichen Maße anspricht – insbesondere Menschen in Deutschland mit außereuropäischen Migrationsgeschichten. Die vermeintliche Dringlichkeit dieser Fragestellung scheint von der Unterstellung getragen, diese Menschen hätten einen besonderen Nachholbedarf in Demokratiebildung. Zudem beinhaltet sie die latente Behauptung, Deutschen ohne Migrationsgeschichten würde es leichter fallen, familiäre oder emotionale Verknüpfungen zur Schoah herzustellen. Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt (2016) konstatiert außerdem: „Der Einfluss, den die Migrationsgeschichte von Eltern oder Großeltern auf gegenwärtige Geschichtsbeziehungen hat, wird tendenziell überschätzt.“ (Ebd., S. 18) Wesentlicher seien die „erfahrenen Geschichtsthematisierungen“. Diese Perspektive steht dem identitärem Fatalismus entgegen, wonach die Biographie zum Schicksal wird.

Moderne Klassiker wie die Studie „Opa war kein Nazi“ (Welzer/Moller/Tschuggnal 2014) weisen jedoch in eine ganz andere Richtung. Welzer und Kolleginnen stellten mit Interviews fest, dass Verklärungen der eigenen Familiengeschichten mit dem zeitlichen generationalen Abstand sogar zu- und nicht abnahmen. Ähnliches brachte der „Multidimensionale Erinnerungsmonitor“ (MEMO) in der Ausgabe 2018 zum Vorschein, als knapp 70 % der Befragten angaben, keine NS-Täter*innen unter den Vorfahren zu haben, wohingegen 18 % glaubten, ihre Vorfahren hätten potenziellen Opfern des NS geholfen (vgl. Zick et al. 2018, S. 11).