Außerschulische Bildung 1/2022

Kommunale Grenzziehungen des Antiziganismus

Oder: Was heißt institutioneller Antiziganismus?

Unter Schlagworten wie „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ entwickelte sich seit 2013 ein politischer Abwehrdiskurs in Bezug auf die EU-Binnenmigration aus Rumänien und Bulgarien. Ausgehend von der These, dass es – als Gegenbewegung zum Abbau territorial-nationaler Grenzen innerhalb der Europäischen Union – zu neuen Praktiken kommunaler Grenzziehungen kommt, wurde am Institut für Didaktik der Demokratie an der Universität Hannover im Auftrag der Unabhängigen Kommission Antiziganismus ein Forschungsprojekt über Mechanismen des institutionellen Antiziganismus im urbanen Raum durchgeführt (2019–2020). von Tobias Neuburger

Das Analysekonzept institutioneller Antiziganismus: begriffliche und historische Überlegungen

Die Geschichte des Antiziganismus Eine einschlägige longue durée des Antiziganismus liegt bis heute nicht vor. Eine empfehlenswerte Einführung in die Sozialgeschichte der Sinti und Roma, die konsequent mit den kulturrassistischen Paradigmen der sogenannten Tsiganologie bricht, bietet Karola Fings (2016). verweist auf eine jahrhundertealte Tradition, die ihn als eigenständige idée fixe ausweist. Er ist allerdings nicht einfach nur eine Idee oder ein Bewusstseinsphänomen im Sinne der Vorurteils- und Stereotypenforschung, sondern artikuliert sich – im Sinne einer Einheit aus Wissen und Macht (vgl. Foucault 2008, S. 39) – auch in institutionellen Praktiken wie Ausgrenzung, Segregation oder Vertreibung. Eine solche Einheit aus antiziganistischen Wissensbeständen und differenzierenden Machtpraktiken bezeichnen wir als institutionellen Antiziganismus. Institutioneller Antiziganismus ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern aus der Geschichte unter behördlichen Bezeichnungen wie „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ hinlänglich bekannt (vgl. Heuß 1996, S. 113).

Der institutionelle Antiziganismus stellt, um es mit Étienne Balibar (1992, S. 53) auszudrücken, keine „lineare“, sondern vielmehr „eine singuläre Geschichte“ mit „Wendepunkten“ dar, die in ihren jeweiligen Artikulationsformen unterschiedliche historisch-politische Konstellationen „miteinander verbindet und von ihnen wiederum beeinflußt wird“. Für die Kritik des institutionellen Antiziganismus ist es daher notwendig, von der „Grundidee“ auszugehen, dass die „Mechanismen der Diskriminierung“ in „Organisationstrukturen“ eingebettet und entsprechend die Analyse der „rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen“ (Gomolla 2005, S. 81) von entscheidender Bedeutung sind. In diesem Sinne hat auch Mark Terkessidis (1998, S. 79 f.) darauf verwiesen, dass der institutionelle Rassismus als ein Apparat von Wissen und Macht begreifbar ist, der „Andersheit produziert“, sich aber durch rechtliche und politische Institutionen verwirklicht, „deren gesellschaftliche Funktion nicht vorrangig in der Produktion von Andersheit besteht“.