Außerschulische Bildung 4/2021

Kritisch Weiß-Sein in der politischen Bildung

Überlegungen aus dem privilegierten „Wir“ heraus

Politische Bildung funktioniert aus der Gesellschaft heraus. In Programmen, Angeboten und internen Strukturen spiegelt politische Bildung die Gesellschaft wider, die sie politisch bilden soll. Damit ist sie immer auch selbst Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung. Also: Wie steht es um Weiß-Sein und Diversität? Ein paar subjektive Überlegungen aus der Sicht einer Privilegierten. von Anja Dargatz

„Critical Whiteness“ „Critical Whiteness“ wird korrekt übersetzt mit „Kritischer Weißseinsforschung“. Neben der Wissenschaft sind damit aber auch immer Handeln und die Aktion verbunden. Eine gute Einführung gibt dieser Radio-Beitrag: www.deutschlandfunk.de/critical-whiteness-weisssein-als-privileg.1184.de.html?dram:article_id=315084 (Zugriff: 06.09.2021) ist die kritische Auseinandersetzung mit der Figur des Weißen als norm-stiftend. Ein als weiß wahrgenommenes Äußeres ist das Normale, während Phänotypen, die als Schwarz/dunkelhäutig/mit Wurzeln oder XY-stämmig wahrgenommen werden, die Abweichung sind und erklärt werden müssen. Diese Form der gesellschaftlichen Hierarchie ist subtiler als ein brutaler Angriff von kahlgeschorenen Neo-Nazis auf Menschen, deren Aussehen nicht in ihr Gesinnungsweltbild passen. Von solchen Taten und Akteuren distanziert sich ein liberaler weltoffener Mensch ohne Zögern. Vom eigenen Weiß-Sein kann man sich nicht distanzieren. Wer sich strukturellem Rassismus stellen will, muss sich auch sich selbst stellen.

Ja, ich finde es anstrengend zu überlegen, ob ich nun „Schwarz“ oder „schwarz“ schreibe, „weiß“ oder „weiß“. Wenn ich die Begriffe „markiert“ oder „jemand wird gelesen“ benutze – ist das genau richtig oder klingt das akademisch-belehrend? Dann doch besser „Wurzeln“ oder „Hintergrund“? Mache ich einen sprachlichen Unterschied zwischen formellen und umgangssprachlichen Situationen? Bin ich besonders nett zu Menschen, von denen ich glaube wahrzunehmen, dass sie auf Grund ihres Aussehens von der Mehrheit im Seminar ausgeschlossen werden? Ist das dann „besonders nett“, diskriminierend oder einfach sehr kompliziert gedacht? Suche ich als Referentin gezielt einen Menschen of Color, damit meine Veranstaltung diverser wird? Aber darf das Aussehen ein Kriterium sein? Wie gehe ich in Gremien-Sitzungen damit um, wenn ein erfahrener politischer Bildner sein Leid klagt, dass man nun Menschen ja nicht mal mehr nach ihrer Herkunft fragen darf? Hole ich ihn verständnisvoll ab oder setze ich bei Bildungsprofis die Grundstrukturen von anti-rassistischem Verhalten voraus und konfrontiere ihn? Ich habe im Ausland gelebt und gearbeitet, als einzige Weiße unter Schwarzen: Trage ich auf diese Weise das koloniale Erbe weiter oder leiste ich meinen Beitrag, um den Schaden, den die Kolonialmächte in der Welt angerichtet haben, zu lindern?

Vom eigenen Weiß-Sein kann man sich nicht distanzieren. Wer sich strukturellem Rassismus stellen will, muss sich auch sich selbst stellen.

Der Alltag in der politischen Bildung ist voll von solchen und ähnlichen Überlegungen. Es ist vor allem deshalb anstrengend, weil es in der Regel kein Richtig und kein Falsch gibt. Bücher und Trainings helfen, strukturellen Rassismus besser zu erkennen und geben Hilfestellung – aber die konkrete Entscheidung nimmt einem niemand ab.

YouTube-Videos statt mich auf der Straße solidarisch mit #BLM zeigen?

Die Anti-Rassismus-Trainerin Jamie Schearer beschreibt diesen Prozess so: „Beziehungen aufbauen und genauer verstehen wie ich mit Schwarzen und Menschen of Color in Beziehung bin. Und das bedeutet: Entschleunigung. Lesen, Zuhören, Reflektieren, auf die eigenen Handlungsweisen schauen, nochmals überdenken, sich in unbequeme Situationen bringen, in dem ich Feedback erfrage und zulasse und die weiße Komfort-Zone verlassen.“ (Interview in der AB 3/2021, S. 60) Stillarbeit statt Demo? YouTube-Videos anschauen, statt mich auf der Straße solidarisch mit #BLM zeigen? Beides? Es ist anstrengend, weil es widersprüchlich ist und es ist anstrengend, weil es meine Blase ist: Menschen wie ich: Mittelschicht, gut gebildet, politisch interessiert und demokratisch überzeugt, weiß und damit nicht von Rassismus betroffen. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner ist wesentlich leichter als mit mir selbst.

Vom Feminismus lernen!

Große Fragen, schwierige Fragen – aber sind sie wirklich so neu? Ist Weiß-Sein im Bezug zu strukturellem Rassismus die neue große Herausforderung, der wir uns stellen müssen und die einige überfordert? Klare Antwort: Nein. Ein Blick auf die jüngere Geschichte des Feminismus hilft. Wir haben uns alle an einen Grundstock gender-sensibler Sprache gewöhnt. Erinnern wir uns an das Geschrei und die Sorge um die deutsche Sprache, würden wir uns vom generischen Maskulinum verabschieden. Nun ist das „Liebe Kolleginnen und Kollegen“, sind die „Bürgerinnen und Bürger“ die Norm und weitere sprachliche Differenzierungen im regen Gebrauch. Niemand trauert mehr dem „Fräulein“ hinterher. Sexismus ist zwar weiterhin in der gesellschaftlichen Struktur verankert – aber die Fortschritte in den letzten Jahrzehnten sind sichtbar. Bestimmte Verhaltensweisen sind mittlerweile schlicht nicht mehr gesellschaftsfähig. Die Reihe der Beispiele lässt sich im unmittelbaren Arbeitsumfeld fortsetzen. Feministische Fragestellungen sind mittlerweile fester Bestandteil des internen Weiterbildungskalenders. Droht ein Podium rein männlich zu werden, suchen wir gezielt nach weiblichen Referentinnen. Gelingt uns das nicht, erklären wir uns vor dem Publikum. Bei Praktikumsbewerbungen bevorzuge ich männliche Bewerber bei gleicher Qualifizierung, weil sich in unserem Büro fast ausschließlich Frauen bewerben. Es gibt überzeugende zwischenmenschliche Gründe so zu handeln: Menschenfreundlichkeit, Respekt, Anerkennung, Wertschätzung. Aber auch Sachargumente, die in unsere DNA übergegangen sind: Diverse Teams lernen und arbeiten besser. 50 % der Weltbevölkerung dürfen nicht unsichtbar bleiben. Und wenn wir die Gesellschaft in unseren Veranstaltungen abbilden wollen – wozu meines Erachtens öffentlich finanzierte Bildungseinrichtung verpflichtet sind – muss man steuernd eingreifen. Weil: Wir sehen nur, was wir kennen. Um die zu erreichen, die nicht in unserer Blase sind, müssen wir aktiv werden – sei es bei Referent*innen oder bei Zielgruppen. Schlussendlich ist auch in den Köpfen etwas geschehen: Politische Aktionen und Forderungen werden begleitet durch ein Umdenken in Bezug auf Rollen- und Familienbilder auch im Privaten – von Frauen und Männern. Sowohl Aktion als auch Stillarbeit sind selbstverständlich geworden. Übrigens definiert sich auch „Feminismus“ immer als beides: als akademische Wissenschaft und als politische Aktion. Vielleicht hilft dieser Blick auf den Feminismus, etwas Gelassenheit in den Umgang mit dem eigenen Weiß-Sein zu bringen: Nicht alles wird sich etablieren, aber einiges – in Bezug auf Verhalten, Sprache, in Bezug auf Quoten und Auswahlkriterien.

Foto: Ryoji Iwata/unsplash.com
Wir sehen nur, was wir kennen. Um die zu erreichen, die nicht in unserer Blase sind, müssen wir aktiv werden – sei es bei Referent*innen oder bei Zielgruppen.

Wer ist dieses „Wir“, das alle diese Instrumente zur Hand hat, das an all diesen Schräubchen drehen kann? Das Einfluss darauf hat, wer eingestellt wird, wer einen Honorarvertrag bekommt, wer den Praktikumsplatz? Allein, dass „wir“ uns darüber Gedanken machen, wie „wir“ diverser werden könnten, zeigt die Kluft zu denen, für die „wir“ uns öffnen wollen. Menschen of color bleiben diese Privilegien verschlossen oder sie sind nur mit weit mehr Anstrengungen zu erreichen, als wenn „wir Weiße“ danach streben. Allein die Möglichkeit, das „Wir“ zu definieren, ist ein Privileg, das „uns“ zufällt ohne uns erklären zu müssen – denn „Wir“ sind die Norm und haben die Deutungshoheit. Gäbe es dieses „Wir“ nicht, wären alle Öffnungsbemühungen überflüssig: Podien und Bewerber*innen wären automatisch divers. Aber es gibt das „Wir“ mit den damit verbundenen Privilegien. Wenn wir es mit Diversität ernstnehmen, müssen wir diese Privilegien am Schopfe packen und für die Sache einsetzen.

Privilegien verstehen und handeln

Ist man sich seiner Privilegien bewusst ist, ist einem auch bewusst, dass es in der Verantwortung der Weißen ist, solche Ungleichheiten anzugehen. Dann beginnt das Handeln:

  • Wie wäre es mit einem Critical-Whiteness-Seminar im internen Weiterbildungskalender? Als Thema eines betriebsöffentlichen „Brown-Bag-Lunches“?
  • Gibt es eine Betriebskultur, in der man rassistische Äußerungen von Kolleg*innen, die häufig auch unbedacht und aus Unwissenheit entstehen, ansprechen kann? Bin ich selbst bereit, ein solches Feedback anzunehmen?
  • Warum bewerben sich bei uns keine Menschen of Color? Was müssen wir verändern, damit sie es tun?
  • Warum ist unser Pool an Referent*innen und Teamer*innen überwiegend weiß?
  • Setzen wir uns bei der Strategieplanung von Projekten im Globalen Süden auch mit der eigenen kolonialen Rolle auseinander? Analysieren wir uns selbst genauso präzise wie Akteure, Zielgruppen und Multiplikatoren?
  • Was passiert, wenn ich die Planungsmatrix der internationalen Projekte auf die Arbeit in meinem jetzigen Gastland Baden-Württemberg anwende? Meine persönliche Erfahrung: Während ich außerhalb Deutschlands sehr viel schneller den einen richtigen Transformationsprozess und seine Förderer und spoiler definiere, tue ich mich in Deutschland schwer damit. Meine Analyse in Baden-Württemberg ist sehr viel differenzierter, das Urteil in Projektländern sehr viel pauschaler.
  • Während es unsere Regularien ohne weiteres vorsehen, dass Delegationen aus dem Globalen Süden nach Deutschland auf Informationsreise kommen, sind umgekehrt „Expert_innen-Einsätze“ vorgesehen. Zum Lernen, nicht zum Beraten, in den Globalen Süden zu reisen, fordert Verwaltungsstrukturen heraus. Förderrichtlinien, die streng nach Inland und Ausland getrennt sind, verhindern einen Dialog auf Augenhöhe.

Veränderungen brauchen Zeit – aber was sind einige Jahrzehnte im Vergleich zu jahrhundertelanger Ausgrenzung?

Jeder Lernprozess ist anstrengend, aber dem Lernen sollte sich niemand verschließen. Schon gar nicht in der politischen Bildung.

Und wenn ich bei meiner Wortwahl doch mal wieder danebenlag? Dann erinnere ich mich an eine Mitarbeiterin eines „Eine-Welt-Ladens“, die ich mal gefragt habe, wie sie auf Menschen reagiert, die weiterhin den Begriff „Dritte Welt“ verwenden. Sie lächelte entspannt und sagte: „Dann weiß ich, dass sie sich mit dem Thema einfach noch nicht eingehend beschäftigt haben.“ Jeder Lernprozess ist anstrengend, aber dem Lernen sollte sich niemand verschließen. Schon gar nicht in der politischen Bildung.

Zur Autorin

Anja Dargatz leitet seit 2016 das Fritz-Erler-Forum, Landesbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart.
Anja.Dargatz@fes.de