Warum für eine zukunftsfähige Transformation politische Verantwortung und Einmischung gelernt werden müssen
Meine tiefe Überzeugung ist, dass politische Bildung Menschen befähigen und darin stärken kann, sich als politische Menschen für das Gemeinwohl verantwortlich zu fühlen und sich für ein friedliches, gerechtes und zukunftsfähiges Zusammenleben einzusetzen. Ich nutze daher jede Gelegenheit, eine Stärkung der politischen Bildung einzufordern. In Deutschland genießt politische Bildung eine besondere Stellung: Unsere gemeinwohlorientierte Bildungslandschaft der politischen Bildung ist vielfältig und weltweit einzigartig. Deutschland steht in besonderer Verantwortung, nie wieder Faschismus und staatlich tolerierte, verordnete Menschenfeindlichkeit zuzulassen. In der Schule hat politische Bildung Verfassungsrang. Zudem können wir nach Beendigung der Schule auf eine Vielzahl von Angeboten mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung zurückgreifen (vgl. Hufer 2015).
Soweit der Anspruch. In der Praxis müssen wir aber beobachten, dass politische Bildung in der Schule und den außerschulischen Bildungsangeboten nicht die finanzielle und ideelle Unterstützung genießt, die ihr zustehen müsste. Aktuell werden z. B. in Nordrhein-Westfalen mehr Ressourcen in die Neueinführung eines Schulfachs Wirtschaft gesetzt, anstatt die politische Bildung an der Schule zu stärken. Bei aller Vielfalt der Angebote erreichen wir noch lange nicht die repräsentative Vielfalt der Menschen in unserer Gesellschaft. Vor allem einkommensschwache, bildungsferne Bürger*innen werden zu selten von unseren Bildungsangeboten erreicht. Gleichzeitig sind diese Bevölkerungsschichten auch nicht repräsentativ im Parlament vertreten und machen seltener von ihrem Wahlrecht Gebrauch.
Ich werde darlegen, warum wir als repräsentative Demokratie, gerade auch angesichts der aktuellen Herausforderungen, auf eine politisch gebildete Mehrheit bauen sollten. Für eine sich ständig verändernde Gesellschaft benötigen wir die begründete Urteilskraft, kritische Begleitung und konkrete Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Wir müssen unser Menschenbild überdenken und mehr Menschen befähigen, sich in Parlamenten und politischen Gremien zu engagieren.
Vorab ein Gedankenspiel – mich interessiert Ihre Einschätzung: Inwieweit können die aktuellen globalen Herausforderungen, wie der Anstieg der Welttemperatur, das vermehrte Artensterben und die Zunahme der Verschmutzung von Gewässern und Böden bei gleichzeitigem Erstarken von autokratischen Staaten und einer vermehrten Rückwendung zu Nationalismus und Ressentiments mit den Methoden einer repräsentativen Demokratie und mit unserer Bevölkerung bewältigt werden? Inwieweit gelingt uns dies als repräsentativer Demokratie unter Beachtung unserer Verfassung, der Menschenrechte und der globalen Entwicklungsziele? Wenn wir bei diesen Fragen ins Grübeln gekommen sind, hat es mit unserer Einschätzung der repräsentativen Demokratie zu tun, aber auch mit unserem Menschenbild. Und beides hängt miteinander zusammen. Ich rege dazu an, unser Menschenbild und die Rolle der Menschen in unserer repräsentativen Demokratie zu überdenken.
Die aktuellen Herausforderungen erfordern die Teilhabe der Mehrheit
Als leitende Fragen für meinen Text wurde mir vom Redaktionsbeirat mit auf den Weg gegeben, zu erarbeiten, welche Aufgaben auf die politische Bildung angesichts aktueller Herausforderungen zukommen und wie sie diesen gerecht wird. Zu den sicherlich drängendsten Herausforderungen für die heute lebenden Menschen gehört die Verhinderung der von der Wissenschaft ausgemachten Kipppunkte, an denen das System Erde aus der Balance zu geraten droht. Damit diese Kipppunkte erst gar nicht erreicht werden, sind tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft und dazu schnelle und zukunftsweisende politische Entscheidungen notwendig. Die wichtigste Frage wird sein, ob wir diese Transformation mit den Methoden einer repräsentativen Demokratie nachhaltig, sozial und zukunftsweisend gestalten können.
Diese Veränderungen betreffen alle Menschen und daher benötigen wir bei möglichst allen auch eine politische Urteilskraft und gesellschaftliche Deutungskompetenzen, um die Zusammenhänge zu verstehen, sie einordnen zu können und die politischen Entscheidungen mit voranzubringen oder sie zumindest mitzutragen. Finden tiefgreifende Veränderungen ohne Zustimmung und Beteiligung der Mehrheit der Bevölkerung statt, schwindet das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates und in die Demokratie und eine friedliche Transformation der Demokratie gelingt nicht. Begründetes Vertrauen in den Staat, seine Vertreter*innen wie auch seine Institutionen ist notwendig, um Veränderungen und den Wandel gemeinsam mit Bürger*innen gestalten und umsetzen zu können. Die aktuelle COVID-19-Pandemie zeigt exemplarisch auf, wie wichtig das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Gemeinwohlorientierung eines Staates ist, wenn z. B. Einschränkungen oder grundlegende Veränderungen in vielen Lebensbereichen vorgegeben werden. Steht die Mehrheit der Bevölkerung hinter den Entscheidungen und kann ihre Begründung nachvollziehen, werden sogar tiefgreifende kurzfristige Einschränkungen nicht nur akzeptiert, sondern aktiv mitgetragen und durch private Initiative gestützt. Das Vertrauen wächst, wenn Menschen sich als bedeutenden Teil des Ganzen sehen und aktiv in verschiedenen Bereichen Einfluss nehmen können. An erster Stelle geht das als gewähltes Mitglied in einem Parlament. Bürger*innen nehmen aber auch Einfluss durch persönliche Kontakte zu Parteien und Politiker*innen, durch aktive Mitgliedschaft in Vereinen, durch Tätigkeit in Verbänden, bei Gewerkschaften und weiteren Initiativen.
Finden tiefgreifende Veränderungen ohne Zustimmung und Beteiligung der Mehrheit der Bevölkerung statt, schwindet das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates und in die Demokratie und eine friedliche Transformation der Demokratie gelingt nicht.
Welche Rolle kommt der politischen Bildung in einer repräsentativen Demokratie zu? Sie hat zunächst die grundlegende Aufgabe, die Menschen zu befähigen, sich als bedeutenden Teil der Demokratie wahrzunehmen, sich innerhalb der politischen Welt zu orientieren, eine eigene Haltung zu entwickeln und sich wirkmächtig in die Gesellschaft einzubringen. Definieren wir in unserer repräsentativen Demokratie die Wirkmächtigkeit einseitig bei den gewählten Eliten und steht die Mehrheit der Bürger*innen als Zuschauer*innen am Rande und kann höchstens bei Wahlen Entscheidungen beeinflussen, dann überrascht es kaum, wenn dies auch so in unseren politischen Bildungsangeboten sichtbar wird. Oder sehen wir andererseits Bürger*innen vielmehr als potenzielle Politiker*innen, die sich in Kommunalparlamente oder sogar hauptberuflich in Landes-, Bundes- und Europaparlamente wählen lassen können? Dieses passive Wahlrecht steht jedem Menschen zu, der seit mindestens einem Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und volljährig ist. Und motivieren und befähigen in diesem Fall unsere Bildungsangebote Menschen, sich aktiv für ein politisches Amt zur Wahl zu stellen? Inwieweit befähigen politische Bildungsangebote Menschen, sich wirkmächtig in die Politik einzumischen? Ja, es ist an der Zeit, dass wir die Rolle der Bürger*innen in unserer repräsentativen Demokratie überdenken.
Politik bedeutet die Regelung der Angelegenheiten unseres Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen (vgl. Fuchs/Roller 2009). Wir wählen für einen bestimmten Zeitraum aus unserer Mitte Vertreter*innen, die diese Entscheidungen zum Wohle der Allgemeinheit treffen. So steht jeder Bürgerin und jedem Bürger die Möglichkeit offen, sich für ein politisches Amt zur Wahl zu stellen. Dies ist für mich eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Demokratie. Jede und jeder kann sich selbst zur Wahl stellen, um die Geschicke unseres Staates und unseres gesellschaftlichen Miteinanders mitzubestimmen. Hierbei geht es immer um Dinge, die alle Menschen betreffen und damit ist eine Zuschauerrolle gar nicht möglich.
Wir benötigen mehr Angebote zur politischen Teilhabe in der repräsentativen Demokratie
Den politischen Parteien kommt bei der Aktivierung der Bevölkerung für ein politisches Mandat eine besondere Rolle zu, da sie nach Artikel 21 bei der politischen Willensbildung mitwirken. Grundgesetz: Artikel 21: (1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. Alle Parteien bieten Informationen und Schulungen für Menschen an, die sich für ein politisches Amt zur Wahl stellen lassen wollen. Im Jahr 2019 waren in Deutschland etwa 1,2 Millionen Personen Mitglied einer politischen Partei, die auch im Bundestag vertreten ist (vgl. Niedermayer 2017, S. 2). Die Seminare der Parteien stehen zwar allen Interessierten offen, orientieren sich jedoch parteinah und sprechen damit nicht alle Menschen an. Die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung bieten parteineutral vielfältige Informationen, auch zum Wahlrecht und zu den unterschiedlichen Wahlen. Darüber hinaus bieten die politischen Stiftungen ein vielfältiges Bildungsangebot für alle Bürger*innen. Sie sind von den ihnen nahestehenden Parteien rechtlich und tatsächlich unabhängig (vgl. BMI o. J.). Sie bieten in verschiedenen Formaten, von allgemeinen Informationen zur Kommunalpolitik bis zu konkreten Qualifizierungsseminaren für Menschen, die sich in der (Kommunal-)Politik engagieren, ein breites Repertoire an. Um mehr Menschen in der Breite und in ihrer Vielfalt zu erreichen, wären aber mehr Angebote notwendig, die zum passiven Wahlrecht informieren und motivieren. Hier sind beispielhaft die Volkshochschul-Seminarreihe „Mehr Frauen für unsere Stadt“ Vgl. Landesverband der Volkshochschulen Nordrhein-Westfalen o. J. und die Schulungen zu Integrationsratswahlen des Landesintegrationsrats NRW zu erwähnen. Vgl. https://landesintegrationsrat.nrw/aktuelles-2/veranstaltungen-3-2; Zugriff auf diesen und alle weiteren in diesem Beitrag genannten Links: 07.09.2020
Ein Format, welches für mich immer noch einzigartig ist und das junge Menschen sowohl theoretisch wie auch praktisch-konkret zur Einflussnahme in der eigenen Kommune befähigt, ist der Demokratieführerschein. Vgl. www.volkshochschule.de/verbandswelt/projekte/politische_jugendbildung/demokratiefuehrerschein/index.php Der Demokratieführerschein ist ein außerschulisches Konzept, bei dem junge Menschen eigene Anliegen festhalten und dann erfahren, wo und wie sie kommunalpolitisch tätig werden müssen, um ihr Anliegen umsetzen zu können. Ebenso wie bei den Jugendparlamenten werden konkrete Anliegen und politisches Handeln nicht in einer Simulation vermittelt, sondern direkter erlebbar gemacht in der realen Kommunalpolitik. Der Demokratieführerschein vermittelt nicht nur ein realistisches Bild von Kommunalpolitik, sondern ermöglicht auch die Befähigung zur aktiven Einflussnahme. Solche Formate werden auch mehr für die Erwachsenenbildung benötigt.
Aktiv Verantwortung übernehmen schafft Vertrauen
Für ein lebendiges, friedliches und gemeinwohlorientiertes Zusammenleben sind wir darauf angewiesen, dass es ein grundsätzliches Einverständnis über den Umgang miteinander, über die uns zustehenden Rechte, aber auch die notwendigen Pflichten bei jedem Einzelnen gibt. Unser demokratischer Staat organisiert sich föderal, und auf Bundesebene, Landesebene wie auch Kommunalebene werden Entscheidungen durch Volksvertreter*innen eigenverantwortlich getroffen. Unsere Gesellschaft kann sich umso mehr in Richtung Gemeinwohlorientierung und Resilienz zum Wohle aller orientieren, je mehr Menschen aus unterschiedlichen Milieus und unterschiedlichen Generationen sich als wirkmächtige Bestandteile unserer repräsentativen Demokratie wahrnehmen, sich verantwortlich fühlen und sich einmischen. Oder mit den Worten von Oskar Negt ausgedrückt: „Das Schicksal einer lebendigen demokratischen Gesellschaftsordnung hängt davon ab, in welchem Maße die Menschen Sorge tragen, dass das Gemeinwesen nicht beschädigt wird, in welchem Maße sie bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen.“ (Negt 2011, S. 139)
Für ein lebendiges, friedliches und gemeinwohlorientiertes Zusammenleben sind wir darauf angewiesen, dass es ein grundsätzliches Einverständnis über den Umgang miteinander, über die uns zustehenden Rechte, aber auch die notwendigen Pflichten bei jedem Einzelnen gibt.
Eine Tendenz des Menschen, konkrete gemeinwohlorientierte Ideen für eine Welt von morgen zu entwickeln und dementsprechendes Handeln aktiv einzufordern, zeigt sich aktuell in vielen Veröffentlichungen von meist jüngeren Autor*innen. Die Politikökonomin und Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung, Maja Göpel, formuliert es so: „Wir haben vergessen, unsere Denkmuster auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu prüfen. Sie zu hinterfragen macht den Blick auf die Hebel frei, mit denen wir aus der Krise in die Zukunftsgestaltung im 21. Jahrhundert kommen.“ (Göpel 2020, S. 15)
Es stellt sich nun die grundlegende Frage: Trauen wir den Menschen zu, die Welt neu zu denken und die notwendigen Veränderungen einer Transformation zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft nachzuvollziehen, mitzutragen und aktiv mitzugestalten? Mein Plädoyer ist: Es ist an der Zeit, das aktuell vorherrschende Menschenbild darauf zu befragen, wie weit es positiv orientiert ist. Ich gehe hierbei von der jüngsten anthropologischen und soziopolitischen Forschung aus. Sie ist geprägt von dem Menschenbild, das Rutger Bregman in seinem aktuellen Buch „Im Grunde gut“ beschreibt, als Idee, die eine Revolution entfesseln könnte, nämlich, dass die meisten Menschen im Grunde zur Kooperation bereit sind (vgl. Bregman 2020, S. 19). Bregman demontiert, von jüngsten Forschungsergebnissen aus einer breiten Wissenschaftspalette untermauert, unser bisher tief verankertes Bild des durchgängig egoistischen und auf den eigenen Vorteil bedachten Menschen: „Erst seit Jahren kommen Wissenschaftler aus völlig unterschiedlichen Disziplinen zu dem Schluss, dass unser düsteres Menschenbild reif für eine vollständige Überarbeitung ist.“ (Ebd., S. 36) Bregman drängt darauf, die Geschichte der Menschheit neu zu denken und unser eigenes Menschenbild zu überdenken. Nicht Eifersucht, Wut und Hass sind Bergmans Erkenntnissen zufolge die bestimmenden Eigenschaften der Menschen, sondern im Gegenteil ist das, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet, unsere Fähigkeit zu einem vertrauensvollen Miteinander, gemeinsamer Produktivität und zu einer naiven Zuversicht in die Zukunft.
Dieses Menschenbild wird auch sichtbar, wenn wir uns die Ergebnisse von Bürgerräten und Bürgerbeteiligungsverfahren anschauen, die unsere repräsentative Demokratie erweitern. Repräsentativ zur Gesamtbevölkerung werden dabei Bürgerinnen für einen bestimmten Zeitraum in die politische Verantwortung genommen. So treffen Bürgerinnen unterschiedlichster Herkunft aufeinander, hören einander zu und treffen gemeinsam Entscheidungen. In Deutschland wird nach dem „Bürgerrat Demokratie“ ein zweiter bundesweiter losbasierter Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt” stattfinden. Die ausgelosten Menschen fühlen sich als wertvoller Teil eines politischen Prozesses, fühlen sich wertgeschätzt und sind in den unterschiedlichen europaweiten Bürgerräten zu erstaunlichen, die Gesellschaft weiterbringende Ergebnissen gekommen (vgl. www.buergerrat.de).
Eine Demokratie kann die aktuellen Herausforderungen nur bewältigen, wenn sich die Mehrheit generationen- und milieuübergreifend dafür in der Verantwortung sieht und bereit ist, sich politisch einzubringen.
Ebenso wichtig wie das Vertrauen in die repräsentative Demokratie ist das Vertrauen in die Mitmenschen, wenn Veränderungen zum Beispiel den Lebensstil oder Ressourceneinschränkungen betreffen und gemeinsames Handeln gefragt ist. Bemerkenswert ist, dass die Menschen nordeuropäischer Staaten (Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden) nicht nur weitgehend ihren nationalen Regierungen vertrauen, sie vertrauen auch sehr stark ihren Mitmenschen und haben insgesamt vergleichsweise hohe Zustimmungswerte, was Zufriedenheit mit ihrem Staat anbelangt (vgl. Jochem 2014, S. 108).
Eine Demokratie kann die aktuellen Herausforderungen nur bewältigen, wenn sich die Mehrheit generationen- und milieuübergreifend dafür in der Verantwortung sieht und bereit ist, sich politisch einzubringen. Die Gesamtverantwortung liegt in der Summe aller Einzelnen und je stärker sich die einzelnen Mitglieder als maßgeblicher und verantwortungsvoller Teil der Gesellschaft wahrnehmen, umso widerstandsfähiger und lebendiger kann diese Demokratie sein.
Mut zur Einmischung
Doch wie sieht die Praxis noch häufig aus? Aktuelle Studien und Analysen zeigen, dass die Beurteilung von Politik und der Arbeit von Politiker*innen häufig nicht positiv ist. So lesen wir beispielsweise in der Studie von 2019 der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass weniger als die Hälfte der Bevölkerung mit dem Funktionieren unserer Demokratie zufrieden ist. Diese Unzufriedenheit bezieht sich einerseits auf die Funktionsweise des Systems und andererseits auf die Ergebnisse der Politik. Mehr als zwei Drittel sind in Bezug auf die Zukunft pessimistisch. Besonders finanziell schlechter Gestellte haben wenig Vertrauen in Staat und Politik (vgl. Decker/Best/Fischer/Küppers 2019, S. 66). Aussagen wie „die da oben machen doch, was sie wollen“ oder „Lobbyisten diktieren Gesetze“ zeigen exemplarisch auf, wie Teile der Bevölkerung sich nicht als wirkmächtig empfinden. Je stärker eine solche Sichtweise zu werden droht, umso wichtiger ist es, die beschriebenen konkreten Möglichkeiten und Chancen der politischen Bildung zu fördern, um sie unserer Gesellschaft in der Breite anbieten zu können. Ein möglicher Ansatz, eine solche politische Bildung verbreiten zu können, findet sich in der Aussage, mit der die Heinrich-Böll-Stiftung gerne ihre Veranstaltungen und Seminare bewirbt, einem Zitat des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“ (Böll 1977, S. 17)
Die politische Bildung kann Raum und Zeit bieten, die Welt neu und zukunftsfähig zu denken und befähigen, sich aktiv und wirkmächtig dafür in unserer repräsentativen Demokratie einzusetzen.
Mit diesem nüchtern anmutenden Zitat zeigen wir auf, dass es Möglichkeiten gibt, sich in dieser komplexen Welt und unserer repräsentativen Demokratie auf soziale Änderung hin zu orientieren und das eigene politische Handeln danach auszurichten. Die Menschen in Deutschland haben unterschiedliche Wahlmöglichkeiten. Sie können sich angesichts der aktuellen Herausforderungen von der Politik abwenden und in ihr Privatleben zurückziehen, sie können sich denjenigen anschließen, die einfache Antworten anbieten und sich damit dem wissenschaftlichen Diskurs verschließen oder aber sie begeben sich auf den mühevollen, eben realistischen Weg, die komplexen Herausforderungen mit demokratischen Mitteln anzugehen, sich als Teil dieser Demokratie verantwortlich zu fühlen und sich dementsprechend einzumischen. Wie sieht es eigentlich bei uns, den Akteur*innen der politischen Bildung mit dem Wissen um wirkmächtige Einmischung aus? Kennen die in der politischen Bildung Tätigen ihre Interessenvertretungen und Verbände? Wir müssen uns auch selber wieder intensiver und aktiv für eine Stärkung der politischen Bildung organisieren und einsetzen. Denn nur mit der aktiven Verantwortung und Einmischung der vielen politischen Bildner*innen wird die Stärkung der politischen Bildung gelingen. Die politische Bildung muss auch dafür werben, sich aktiv für das Gemeinwohl einzusetzen und sich die notwendigen Kompetenzen für eine wirkungsvolle Einmischung anzueignen.
Die politische Bildung kann Raum und Zeit bieten, die Welt neu und zukunftsfähig zu denken und befähigen, sich aktiv und wirkmächtig dafür in unserer repräsentativen Demokratie einzusetzen. Dabei müssen möglichst alle Menschen erreicht werden.
Zur Autorin
Iris.Witt@boell-nrw.de
Foto: Privat