Transformationen: Globale Entwicklungen und die Neuvermessung der politischen Bildung
Politische Bildung unterstützt Menschen dabei, soziale, gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und politische Prozesse und Strukturen zu verstehen. Sie fördert Kritik- und Urteilfähigkeit und sie motiviert und befähigt, diese Entwicklungen mitzugestalten, zu verändern oder auch zu sichern. Dabei greift sie immer auch Wandlungs- und Modernisierungsprozesse auf nationaler und internationaler Ebene auf und thematisiert diese als Herausforderung in ihren Angeboten und Formaten.
Neue Fragestellungen
Aktuell haben wir es mit Wandlungsprozessen zu tun, die die Welt in den letzten Jahren sehr schnell tiefgreifend verändert haben. Technische, ökologische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen haben bereits zu einer grundlegenden Veränderung unserer Denk-, Lebens- und Arbeitsweisen geführt. Keine dieser Entwicklungen kann mehr isoliert betrachtet werden. Das bedeutet z. B., dass der Klimaschutz nicht mehr allein als Umweltthema verstanden werden kann, oder dass die Digitalisierung nicht allein als technische Herausforderung zu betrachten ist.
Diese miteinander verbundenen Entwicklungen haben Fragen aufgeworfen, die die Profession der politischen Bildung unmittelbar betreffen: Was bedeutet es, wenn die Veränderungsprozesse und Herausforderungen eine ungeahnte globale Dynamik und Beschleunigung erfahren und neue Ausgrenzungsprozesse hervorrufen oder vorhandene verstärken? Was bedeutet es, wenn die Grundlagen der Demokratie selbst in Frage gestellt werden und bisher eingeübte demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten an Bedeutung verlieren oder sich an anderen Orten und in anderen Formen vollziehen? Und was bedeutet der zunehmende Rückgriff auf überwunden gedachte Gesellschafts- und Politikvorstellungen auf nationaler und internationaler Ebene und eine damit verbundene Infragestellung internationaler Verständigungs- und Konfliktlösungssysteme für die politische Bildung?
Globale Entwicklungen
Es bedeutet, dass die politische Bildung im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und ihre Praxis herausgefordert ist, eine Neuvermessung ihres Standortes und ihres Aufgabenfeldes vorzunehmen, Grenzen neu auszuloten und im Hinblick auf die Chancen, die den Entwicklungen auch innewohnen, ihre gesellschaftspolitische Gestaltungskraft besser zu nutzen.
Für diese Neuvermessung der politischen Bildung sind aus fachlicher Perspektive einige der globalen Entwicklungen und ihre gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen von zentraler Bedeutung: die Klimakrise, die Zerstörung von Lebensgrundlagen, der technologische Fortschritt und die Digitalisierung. Dazu zählen auch die Veränderungen der globalen politischen Ordnung bzw. Machtverhältnisse, die globalen Migrationsbewegungen und die Zunahme von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Exklusionsprozessen.
In besonderer Weise fordern die Entwicklungen die Träger und Akteur*innen heraus bzw. stellen deren Existenz infrage, die auf den Kern politischer Bildung zielen. Dazu gehören die zunehmende Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung, Angriffe auf die Demokratie zum Beispiel durch Destabilisierungsversuche, die Infragestellung der Grund- und Menschenrechte und Re-Nationalisierungsprozesse verbunden mit einem zunehmenden demokratiegefährdenden Populismus.
Aufgabe der politischen Bildung im Kontext einer Neuvermessung
Auch wenn nationale und globale Entwicklungen immer schon Themen der politischen Bildung sind, erfordert die neue Qualität der Veränderungen neue Antworten. In diesem Sinne gehören zur Neuvermessung der politischen Bildung folgende Aufgaben:
- die politische Bildung als Bildung in der Weltgesellschaft weiterzuentwickeln und sowohl die Gefahren als auch die Chancen der Veränderungsprozesse zum Inhalt politischer Bildung zu machen;
- Angebote politischer Bildung auszubauen, damit Menschen und Regionen nicht abgehängt werden und der Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse verwirklicht wird;
- neue Kooperationen einzugehen, insbesondere mit demokratisch orientierten neuen (sozialen) Bewegungen;
- das Augenmerk auf die Klimakrise als die globale Krise dieser Zeit zu richten;
- die behauptete Pflicht zur Neutralität zurückzuweisen und den fachlichen Diskurs der Profession selbstbestimmt und selbstbewusst zu gestalten;
- Solidarität zu üben und Widerständigkeit zu zeigen gegenüber rassistischen und diskriminierenden Anfeindungen von Trägern der politischen Bildung, die das Ziel haben, zivilgesellschaftliche Akteure zu diskreditieren;
- die Zugänge zur politischen Bildung inklusiv zu gestalten mit dem Ziel, politische Bildungsangebote für alle zu schaffen, um Teilhabe zu ermöglichen und Demokratie zu stärken;
- sich stärker in andere Arbeitsfelder wie die Soziale Arbeit, die offene Jugendarbeit, die Familienbildung u. a. einzubringen und die dort vorhandenen Kompetenzen, Erfahrungen und Zugänge zu nutzen;
- politischer zu werden und sich selbst als politischer Akteur/als politische Akteurin zu begreifen;
- mit neuen (Arbeits)Formen auf die globalen Entwicklungen, insbesondere auch auf die Digitalisierung, zu reagieren.
Forderungen an Politik und Gesellschaft
Wenn die Träger und Einrichtungen der politischen Bildung in die Lage versetzt werden sollen, diese Neuvermessung aktiv anzugehen, bedürfen sie einer intensivierten Unterstützung durch die Politik. Dazu gehört es vor allem, den Trägern und Einrichtungen größere Gestaltungsräume zur Verfügung stellen, um Potenziale entfalten zu können, fachliche Weiterentwicklung zu ermöglichen und strukturellen Aufbau zu unterstützen. Die finanzielle Absicherung muss die Regelarbeit fördern und zugleich die Erprobung von Neuem zulassen. Eine Engführung von Förderprogrammen in Bezug auf Zielgruppen und Themensetzungen ist dabei nicht hilfreich.
Insbesondere erwarten wir aber von Politik und Gesellschaft, dass die Notwendigkeit und Bedeutung politischer Bildung anerkannt wird. Wir erwarten, dass der zunehmenden Infragestellung der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung entschieden entgegengetreten wird. Abzulehnen und abzuwehren sind rechtspopulistische Angriffe ebenso wie die Infragestellung des Bildungsbegriffs durch Finanzverwaltungen oder die Reduktion politischer Bildung ausschließlich auf Demokratiebildung oder Extremismusprävention.
Der AdB verbindet mit seinem Jahresthema 2020 die Anliegen, Anregungen für die Bildungspraxis in den Mitgliedseinrichtungen zu geben, eine Intensivierung des Fachdiskurses innerhalb und außerhalb des AdB anzuregen und die Einladung an Politik und Öffentlichkeit auszusprechen, über politische Bildung in einen Dialog zu treten.