Einblick in ein Projekt partizipativer politischer Jugendbildung
Umsetzung und Ziele politischer Bildung
Politische Bildung hat den Auftrag, „dazu beizutragen, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eine demokratische Haltung, eigene begründete Meinungen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit entwickeln, sich demokratisch zu beteiligen“ (BMFSFJ 2020, S. 8), so der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Weiter wird dort beschrieben, dass die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in politischen Angeboten gehört und berücksichtigt werden sollen. Lernende sollen dazu ermutigt werden, politische Bildungsprozesse selbst zu organisieren und gleichberechtigt zu gestalten. Die Angebote müssen dabei für alle Menschen geöffnet und zugänglich gemacht werden, denn eine politische Urteils- und Handlungskompetenz ist für alle Menschen von Bedeutung. Kindern und Jugendlichen soll es somit ermöglicht werden, durch die Auseinandersetzung mit der persönlichen Lebenswelt das breite Spektrum der politischen Bildung zu erfahren (vgl. ebd. S. 8 ff.).
Diese Forderungen an außerschulische politische Bildung sind leicht nachzuvollziehen und finden sich auch im Sozialgesetzbuch VIII, §11 Jugendarbeit, wieder. Es ist somit kein neuer Ansatz den der 16. Kinder- und Jugendbericht verfolgt, er verdeutlicht jedoch, dass weiterhin großer Handlungsbedarf in der Entwicklung und Umsetzung von partizipativen Programmen für Kinder und Jugendliche besteht.
Die Jugendbildungsstätte Welper (JuBi Welper) will dazu beitragen Bildungsprozesse zu initiieren und zum kritischen Denken anzuregen. Dafür wird an der Lebenswelt sowie den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen angeknüpft. Beispielhaft für solche Bemühungen ist das Projekt „Nicht ohne uns über uns – Jugendperspektiven für die Bildungsarbeit“, welches im Folgenden vorgestellt wird.
Das Grundgerüst des Projekts
Nachdem sich 2019 Jugendliche, die wir in unterschiedlichen Projekten kennenlernen durften, mehr Projekte zur politischen Bildung gewünscht haben, wurde das Projekt „Nicht ohne uns über uns – Jugendperspektiven für die Bildungsarbeit“ ins Leben gerufen. Das Projekt wird durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) gefördert. In dem Projekt bekommen bis zu acht junge Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven die Möglichkeit, sich freiwillig intensiv mit einem politischen Thema ihrer Wahl zu beschäftigen. Die politischen Fragen, Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmenden stehen im Vordergrund, wodurch der Ausgang des Projektes offen ist. So können sie selbstbestimmt und partizipativ das weite Spektrum der politischen Bildung kennenlernen und somit ihre Handlungskompetenz ausweiten und durch Selbsterfahrungen zu Expert*innen ihrer Lebenswelt werden.
Das Projekt besteht aus zwei mehrtägigen Seminaren und fünf einzelnen Seminartagen und erstreckt sich über einen Zeitraum von mehreren Monaten und hat das Ziel, dass diese jungen Menschen politische Bildungsprozesse selbst organisieren und gestalten. Nach einer Kennenlern- und Gruppenfindungsphase bestimmt die Gruppe den Seminarinhalt selbst. Zudem steht ihnen ein Budget zur Verfügung, welches sie für Workshops, Tagungen und Seminare in anderen Bildungsstätten oder für externe Referent*innen frei nutzen können. Die Teilnehmenden bestimmen, in welche Richtung der politischen Bildung es gehen soll, wie sie diesen Prozess ausgestalten und wie sie die frei verfügbaren Ressourcen nutzen wollen. Sie bekommen dabei so viele Freiheiten wie benötigt und so viel Unterstützung wie von ihnen gewünscht. Dieser selbstorganisierte Prozess wird durch erfahrene Teamer*innen und eine Bildungsreferentin der JuBi Welper von Anfang bis Ende begleitet, sodass die Gruppe jederzeit feste Ansprechpartner*innen hat. So soll die Gruppe zielgruppengerechte Ansätze, Formate und Methoden der politischen Bildung und Teilhabe kennenlernen, austesten und kritisch reflektieren. Das hierbei angeeignete Wissen und die bestehenden Perspektiven können anschließend nach dem Peer-to-Peer-Ansatz in ein Seminarangebot von bis zu 15 jungen Menschen eingehen. Auch hier entscheidet die Gruppe, ob dieses Seminar stattfindet und wie es gestaltet wird. Die Projektvorplanung stellt lediglich einen Rahmen und verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die Gruppe kann dann gemeinschaftlich entscheiden, wie und was sie davon nutzen möchte.
Das Projektjahr 2021/2022
Das erste Kennenlernen aller im Projekt aktiv beteiligten Personen konnte im Dezember 2021 in Präsenz stattfinden. Angeleitet von zwei Teamerinnen standen Teambuilding, Kennenlernen und der Begriff Politische Bildung sowie der mögliche Projektverlauf im Vordergrund. Anhand des Themas Nachhaltigkeit und den 17 Sustainable Development Goals (SDG) wurden den Teilnehmenden exemplarisch Themen der politischen Bildung aufgezeigt und ihr kritisches Denken angeregt. Hier wurde deutlich, dass der Begriff Politische Bildung schwer einzugrenzen ist und es viele mögliche Themen gibt, mit denen sich die Gruppe beschäftigen könnte. Eine Pinnwand mit Themenvorschlägen und Wünschen wurde das ganze Seminar über erweitert. Anhand dieser Vorschläge einigte sich die Gruppe auf zwei Themen, mit denen sie sich bei den weiteren Treffen beschäftigen wollte. Was die Teilnehmenden mit den ausgewählten Themen verbinden, wurde durch die Methode World-Café herausgearbeitet, indem die Teilnehmenden in mehreren Gesprächsgruppen miteinander diskutierten und ihre Ideen dazu entwickelten.

Durch die flexiblen Strukturen des Projektes war es zu Beginn für alle Beteiligten schwer zu verstehen „wo die Reise hingehen soll“. Es war deutlich zu merken, dass der offene Projektansatz zu Anfang sowohl Begeisterung als auch Irritationen hervorrief. Die Teilnehmenden waren es gewohnt, dass ihnen Strukturen und ein Ziel, auf das sie hinarbeiten konnten, vorgegeben wurden. Die Möglichkeit, ein selbstgestaltetes Seminar für andere Personen durchzuführen, stieß bei den Teilnehmenden auf großes Interesse und gab ihnen ein selbstgewähltes Ziel vor. Die weiteren Treffen waren somit darauf ausgerichtet, dieses Ziel zu erreichen.
Anfang Januar 2022 traf sich die Gruppe erneut in der JuBi Welper und setzte sich mit den vorher gewählten Themen Diskriminierung und Cybermobbing auseinander. Hier wurden die Seminareinheiten nicht von den Teamerinnen vorgegeben oder vorbereitet, sie standen den Jugendlichen lediglich bei Fragen zur Seite und hatten auf Wunsch der Teilnehmenden Methoden zu den Themen vorbereitet, die nach Bedarf genutzt wurden. Mit dem Thema Diskriminierung hat sich die Gruppe zuerst theoretisch auseinandergesetzt und dazu Fachliteratur gelesen und besprochen. Anschließend entstand ein Austausch über Diskriminierungserfahrungen und gegenseitiges Empowerment, denn alle Teilnehmenden haben selbst mehrfach Diskriminierungserfahrungen gemacht. Es ging um Selbstermächtigung und sich stark machen. Anhand der Methode Ressourcenmembran begaben sie sich auf die Suche nach ihren persönlichen Ressourcen und Stärken. Bei der Methode schreiben alle erst allein für sich und dann ergänzend im Austausch mit einer anderen Person ihre sozialen, materiellen, persönlichen und infrastrukturellen/institutionellen Ressourcen auf, im Anschluss können die Ergebnisse freiwillig vorgestellt werden.
Zum Thema Cybermobbing sammelte die Gruppe Unterthemen, teilte diese untereinander auf und recherchierte in Einzelarbeit dazu im Internet. Sie nahmen sich vor, aus diesen Informationen bis zum nächsten Treffen eine gemeinsame PowerPoint-Präsentation zu erstellen. Es wurde eine Abmachung zum weiteren Vorgehen und zur eigenverantwortlichen Arbeit gemacht, was sich als hilfreich und motivierend herausstellte. Somit entstand eine selbstgewählte Struktur, welche den Teilnehmenden weitere Sicherheit und Perspektiven für den Verlauf des Projektes gab. Alle Ergebnisse wurden in einem Padlet gesammelt.
Aufgrund von Quarantänefällen fand das nächste Treffen online statt, sodass alle dabei sein konnten. Hier stand das Zusammenfügen der PowerPoint-Präsentation und der Informationsaustausch über Cybermobbing im Vordergrund. Es war das vorletzte Treffen vor dem selbstgestalteten Seminar und erste Planungen, wie z. B. die Festlegung des Themas und die Gestaltung eines Flyers, wurden umgesetzt. Hierfür musste die Gruppe sich gemeinsam auf die Rahmenbedingungen einigen und auch zuhause daran weiterarbeiten.
Vom Teilnehmenden zum Teamenden – Die Entwicklung eines eigenen Seminars
Die Gruppe stand nun vor der selbstgewählten Chance, aber auch vor der Herausforderung, ein Seminar selbst vorzubereiten, zu bewerben und durchzuführen. Die Gruppe entschied sich, ein Seminar zum Thema Cybermobbing für insgesamt 15 Teilnehmende im Alter von 12 bis 17 Jahren durchzuführen. Sie überlegten sich, wie sie am besten die Zielgruppe erreichen können und holten sich hierfür so viel Hilfe von der Bildungsreferentin wie nötig. Sie gestalteten einen Flyer sowie einen Eintrag für die Website der JuBi Welper und richteten eine E-Mail-Adresse ein. Der Flyer wurde dann in den Schulen und naheliegenden Jugendzentren verteilt und von der Bildungsreferentin an Jugendwohngruppen verschickt. Der Gruppe war es ein sehr großes Anliegen, ihr angeeignetes Wissen weiterzugeben und mit Jugendlichen darüber zu diskutieren. Denn ihrer Meinung nach
„… tragen auch in der digitalen Welt alle Individuen eine Verantwortung für das digitale und somit gesellschaftliche Zusammenleben. Ein Bewusstsein der Wirkung des Handelns sollte reflektiert und langfristig gesehen darauf hingearbeitet werden, Verantwortung für das eigene Handeln, auch im Internet, zu übernehmen.“ (Marcia)
Als dann feststand, dass es genügend Anmeldungen gab und das Seminar wirklich stattfinden konnte, stieg die Aufregung. Bei einem letzten intensiven Treffen in der JuBi Welper beschäftigte sich die Gruppe mit verschiedenen altersgerechten Methoden zum Thema. Sie diskutierten deren Vor- und Nachteile und zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie lange die jeweilige Methode dauert, wie sie von den Teilnehmenden angenommen wird und ob es nicht doch zu schwer ist, ein so breites Altersspektrum anzusprechen. Bis spät in den Abend hinein entwarfen sie einen Ablaufplan und verteilten letzte Aufgaben, die zuhause erledigt werden mussten.

Dann war es so weit und der Tag des Seminares war da. Plötzlich waren sie Teamende, die einen Lernprozess für andere gestalten sollen und Verantwortung übernehmen müssen.
„Wenn ich an unser selbstgestaltetes Seminar denke, dann denke ich an den Mut und das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden und wie meine Erwartungen übertroffen wurden.“ (Sara)
Fazit und Ausblick
Die Teilnehmenden im Projektjahr beschäftigten sich mit den Themen Globalisierung, Nachhaltigkeit, Diskriminierung und besonders mit dem Thema Cybermobbing. Sie knüpften an ihre persönlichen Erfahrungen und Lebenswelten an. Die Wichtigkeit des Themas Cybermobbing haben sie für sich persönlich und für Jugendliche erkannt und führten ein Seminar für elf Menschen im Alter von 12 bis 17 Jahren durch. Das Cybermobbingseminar wurde direkt im Anschluss mit der Bildungsreferentin reflektiert. Alle waren sehr stolz und zufrieden mit sich und ihrem Seminar, was auch durch die positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden widergespiegelt wurde. Die ausgewählten Methoden wurden gut angenommen und viele Teilnehmende konnten das Seminar als einen Ort nutzen, an dem sie auch von ihren persönlichen Erfahrungen berichten konnten. Gemeinsam wurde nach Lösungsstrategien für verschiedene Situationen gesucht und diese in Form von Rollenspielen durchgespielt. Auch Streitigkeiten unter den Teilnehmenden konnten die Teamenden weitestgehend ohne direktes Eingreifen der Bildungsreferentin klären.
„Besonders merke ich mir, dass man Jugendliche öfter nach ihren Erfahrungen und Meinungen fragen sollte und eine Sensibilität für verschiedene Themen wichtig ist und erlernt werden muss.“ (Sara)
Die Gruppe hat also die Möglichkeit genutzt, ein Seminar nach ihren eigenen Vorstellungen und selbstbestimmt zu gestalten und die Teamer*innen-Rolle einzunehmen.
Die Ressourcen in Form von Geld hat die Gruppe kaum genutzt, zum einen, weil sie nicht wussten, wofür, und zum anderen mit der Begründung, dass sie sich die Informationen lieber eigenständig aneignen wollen.
Die begleitende Teamerin und die Bildungsreferentin mussten sich selbst immer wieder reflektieren und dahingehend überprüfen, den Teilnehmenden nicht zu viele Vorgaben zu machen und Strukturen vorzugeben. Die Zusammenarbeit erforderte von allen Mitwirkenden hohe Flexibilität, selbstverantwortliches Handeln, Kommunikationsfähigkeit, Eigenmotivation und besonders Zeit. Am Ende wurde das gesamte Projekt zusammen mit der Bildungsreferentin bei einem Nachtreffen reflektiert und beendet.
Trotz der Beendigung des Projektes soll der Kontakt zu den Teilnehmenden nicht abbrechen. Sie sollen in Zukunft in weitere Projekte der politischen Bildung in der JuBi Welper eingebunden werden und in der Bildungsarbeit mitwirken. Eine Fortführung des Projektes ist geplant.
Zur Autorin

lena.urban96@web.de