Eine Replik
Ein irritierend widersprüchlicher Text. Albert Scherr bescheinigt der politischen Bildung, durchaus auch selbstkritisch, „rückblickend die Tendenz zu einer naiven Ignoranz“, Russlands Aggressionskrieg habe ihn jetzt, schreibt er, eines Besseren belehrt. Aber statt Vorschläge zu entwickeln, wie die naive Ignoranz jetzt zu überwinden ist, präsentiert er einen reichlich verschwurbelt anmutenden Aufruf zur Rettung ausgerechnet – ja, „pazifistischer und antimilitaristischer Positionen“! Man reibt sich die Augen. Auf den drei Seiten ist, wenn ich richtig gezählt habe, mehr als 20 Mal von Pazifismus die Rede. Es scheint, als sei dem Autor seine friedensbewegte Gesinnung noch immer wichtiger als praktische Solidarität mit der überfallenen und geschundenen Ukraine. Diese wehrt sich auf eine von wenigen erwarteten bewundernswürdigen Weise ihrer Haut, indem sie das in der UN-Charta verbriefte Recht auf Selbstverteidigung wahrnimmt. Sie kämpft um ihre staatliche und nationale Existenz. Zugleich verteidigt sie die auf Regeln und Völkerrecht beruhende Staatenordnung, die der imperialistische Revisionismus Wladimir Putins über den Haufen wirft. Für beides verdient sie jede erdenkliche Unterstützung.
Nun hat sich Albert Scherr wider seine pazifistische und antimilitaristische Grundhaltung zum Eingeständnis durchgerungen, „dass Waffenlieferungen an die Ukraine (…) gerechtfertigt sind“. Allerdings folgt dieser „Überzeugung“ die Einschränkung auf dem Fuß: Das gelte nämlich nur „in dem Maße, wie diese (scil. Waffen) dem Zweck der Selbstverteidigung gegen den russischen Angriffskrieg dienen“. Die Rückeroberung der Krim wäre, behauptet er ohne jede Begründung, „eine Ausweitung dieser Zielsetzung“. Mitnichten. Die widerrechtliche Annexion der Krim erfolgte, was Wladimir Putin zuerst leugnete, später jedoch nonchalant eingeräumt hat, mit Hilfe russischer Soldaten; und sie wurde mit einem Pseudo-Referendum legitimiert. Wäre es dabei mit rechten Dingen zugegangen, hätte Russland die Abstimmung international überwachen lassen können. Hinzu kam der als ethnischer Bürgerkrieg fadenscheinig camouflierte, in Wirklichkeit auf Annexion zielende Krieg im Donbass. Der Angriffskrieg begann mithin nicht erst am 24. Februar 2022, sondern schon mit dem Völkerrechtsbruch 2014. Doch offenbar gaben die acht Jahre Krieg mit Tausenden von Toten Albert Scherr noch nicht zu denken. Viele wollten nicht wahrhaben, was doch vor unser aller Augen geschah, und klammerten sich an Friedensbeteuerungen Wladimir Putins, wenn sie nicht sogar die Ursache für dessen seit 2012 im Innern wie nach außen sich radikalisierende Politik kurzerhand der NATO-Osterweiterung und den USA zuschrieben. Geradezu klassisches Appeasement, am 24. Februar 2022 gab es dann ein böses Erwachen. „Niemand kann einen Tiger durch Streicheln in ein Kätzchen verwandeln“, formulierte US-Präsident Franklin D. Roosevelt einst treffend – allerdings erst zwei Jahre nach München.
Als eine der Ursachen für unsere „naive Ignoranz“ macht Albert Scherr eine Art Autismus großer Teile unserer Sozialwissenschaften und der politischen Bildung aus. Das gelte, wie er selbstkritisch schreibt, auch für „jene Theorien und Konzepte, die sich selbst dezidiert als kritische verstehen“. Deren Fokus sei es, die kapitalistische Ökonomie, die Geschlechterverhältnisse, Diskriminierung und Rassismus zu kritisieren. Militärische Sicherheit, internationale Ordnung, Geopolitik und Militär habe man „weitgehend vernachlässigt“. Stimmt. Aber das ist noch nicht alles: Die gesellschaftlichen Verwerfungen der realsozialistischen Diktaturen, ihre böse nachwirkenden mentalen und psychischen Beschädigungen blieben aus der kritischen Analyse weitgehend ausgeblendet – eine Art autoreferenzieller Borniertheit, als gäbe es nur einen relevanten Akteur auf dieser Welt, gleichsam einen Demiurgen der Weltpolitik: den kapitalistischen Westen oder – gemischt mit antiamerikanischen Ressentiments – die USA. Jedenfalls finden sich unter jenen Appellen, die aufrufen zu „Diplomatie statt Waffen“ und „Verhandeln statt Krieg“ keine Autoren, die sich jemals mit den sozialen und politischen Realitäten in Osteuropa kritisch auseinandergesetzt haben, sieht man von der unverbrämten Putin-Apologie einer Gabriele Krone-Schmalz einmal ab.