Außerschulische Bildung 4/2022

ONBOARDING MEMORIES

Ein internationales Projekt zur Erstellung digitaler Erinnerungsräume zum Thema NS-Zwangsarbeit

Das Projekt ONBOARDING MEMORIES macht Geschichte, System und vor allem Opfer der NS-Zwangsarbeit sichtbar. Es widmet sich so einer wesentlichen und zugleich oft übersehenen Dimension nationalsozialistischer Verbrechen. Durch seine modellhaften digitalen Ansätze (Erstellung von 360°-Rundgängen), durch den neuartigen Einsatz von Zeitzeugengesprächen (Integration in digitale Räume), dank transnationalen Charakters (Kooperationspartner aus vier Ländern) und dank der Zusammenarbeit verschiedener Generationen stärken wir das Fundament einer europäischen Erinnerungskultur, die analoge Elemente mit digitalen verbindet und die damit sehr einfach inhaltlich und in der Reichweite wachsen kann. von Renate Krekeler-Koch

Bildungsagenda NS-Unrecht

Die Vermittlung von Wissen über den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen ist und bleibt eine wichtige Bildungsaufgabe. Studien zeigen, dass jüngere Befragte im Vergleich zu älteren häufiger angeben, wenig über die Ausbeutung von Zwangsarbeiter*innen in der NS-Zeit, die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und die Einstellungen der Bevölkerung während des Nationalsozialismus zu wissen (vgl. EVZ 2022). Mit „MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor” erforscht das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG) seit 2018, was, wie und wozu Bürger*innen in Deutschland historisch erinnern. Auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus muss fortgesetzt werden. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen wird dies insbesondere auch für junge Menschen immer relevanter. Auf Initiative und mit Zuwendungsmitteln des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) startete die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) Ende 2021 hierzu ein groß angelegtes Förderprogramm. Die Bildungsagenda NS-Unrecht soll die historisch-politische Bildung zum NS-Unrecht in Deutschland und Europa stärken und ausbauen. Durch geschichtsbewusste, aktivierende Vermittlung und Diskussion der Lehren aus der NS-Vergangenheit und die Sichtbarmachung von Erfahrungen der von Verfolgung Betroffenen sollen demokratische Haltungen gestärkt und Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und LSBTIQ-Feindlichkeit entgegengewirkt werden.

Die Erinnerung an die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen während des Zweiten Weltkriegs und an die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gehört zu den wichtigsten erinnerungskulturellen Anliegen im europäischen Kontext.

Die Erinnerung an die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen während des Zweiten Weltkriegs und an die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gehört zu den wichtigsten erinnerungskulturellen Anliegen im europäischen Kontext (vgl. ebd.).

Eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur entwickeln

Gemeinsam mit der Europäischen Akademie Berlin setzen die Partnerorganisationen in Frankreich (Centre Européen Robert Schuman), Polen (Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung) und Italien (Istituto Comprensivo n.4 Stefanini) das Projekt um. Zielgruppen des Projekts ONBOARDING MEMORIES sind Multiplikator*innen der Erinnerungsarbeit und Jugendliche. Sie präsentieren gemeinsam und multiperspektivisch historische Orte in digitaler Form. Sie erweitern ihr Wissen um das Phänomen der NS-Zwangsarbeit und verstehen so die transnationale Dimension von zentralen Elementen des deutschen Nationalsozialismus wie Rassismus, Ausbeutung, Vernichtung. Indem sie die Gestaltung virtueller Räume diskutieren, Verbindungen zwischen diesen Räumen erarbeiten und mit Fachleuten reflektieren, gewinnen die Teilnehmenden neue Perspektiven. Sie reflektieren nationale Erinnerungskulturen, den Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit der Vergangenheit. Durch diesen Kompetenzgewinn und durch die Projektdokumentation werden die Teilnehmenden befähigt, auch gemeinsam mit Dritten vergleichbare Vorhaben in ihren Heimatregionen zu initiieren. Dies stärkt eine lebendige Auseinandersetzung mit dann als europäisch wahrgenommenen transnationalen Erinnerungsorten.

Foto: Maria Krell Stiftung EVZ

Erinnerungskulturen ändern sich über die Jahre – ebenso wie die mediale Darstellung dieser Erinnerungen. Alle praktischen Erfahrungen weisen darauf hin, dass Wissensvermittlung nur gelingt, wenn sie in Kontexte partizipativer, kreativer oder künstlerischer Aneignungsformen eingebettet und gleichzeitig als eigenes Bildungsziel mitkonzipiert ist. Daher sind alle Projektphasen von ONBOARDING MEMORIES interaktiv gestaltet und binden Geschichtsinitiativen, Jugendliche zwischen 15 und 22 Jahren sowie Fachleute zentral mit ein. Die teilnehmenden Geschichtsinitiativen und Jugendlichen entscheiden, welche Orte dokumentiert werden. Sie wählen geeignete Materialien für die digitale Ausgestaltung und Bereicherung der Räume aus. Die Jugendlichen sind in allen Phasen des Projekts beteiligt und letztlich die Entwickler*innen neuer digitaler Erinnerungsräume. So schafft das Projekt zugleich Netzwerke moderner Erinnerungskultur für eine neue Generation.

Die Auswahl der Partnerländer für das Projekt ermöglicht den Blick von Ost nach West. Dies war uns ein besonderes Anliegen, denn die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist noch immer westeuropäisch geprägt und zeigt eine große Unwissenheit über den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten im Osten Europas, insbesondere auch in Polen.

Für Frankreich und Deutschland gilt aber auch, dass das Wissen über NS-Zwangsarbeit lückenhaft ist und in den Schulen kaum oder gar nicht behandelt wird. Diese Unwissenheit steht im krassen Gegensatz zu den Familienerinnerungen in Polen, wo quasi jede Familie hiervon betroffen war.

Das Familiengedächtnis vieler Deutscher unterscheidet sich von den öffentlichen Auseinandersetzungen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit. Während es öffentlich deutliche erinnerungspolitische Einschnitte gab, verharrt das private Erinnern gerade angesichts des Wissens über den Nationalsozialismus oft in Abwehrhaltungen.

„I feel being part of something really modern and important.“ (Timur, Teilnehmer aus Angoulême, Frankreich)

Was die Teilnehmenden begeistert, ist, dass man „alte, verstaubte Geschichte mit brandneuer Technologie“ verbinden und so eine „völlig neue Perspektive schaffen kann, um diese Inhalte rüberzubringen“. Dies ist wichtig, da junge Menschen mit Büchern und Tafeln nicht mehr zu erreichen seien (Fridolin, Teilnehmer aus Dorfen, Bayern). Im Projekt entsteht ein digitales Museum zur Erinnerung an Geschichten und Biografien, die bisher nicht erzählt wurden. Mithilfe von Virtual Reality Technologie schlägt das Projekt eine Brücke zwischen dem Wissen von Historiker*innen, die lokal teils jahrelang forschen, und jungen Menschen, die bisher kaum mit den Themen des Projekts in Berührung gekommen sind.

„The project allows to create a European identity.” (Quentin, Teilnehmer aus Nantes, Frankreich)

Die Europäische Akademie Berlin mit den Durchführungspartnern Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung (Polen) und dem Centre Européen Robert Schuman in Scy-Chazelles (Frankreich) haben vor Ort Gruppen gefunden oder gebildet, die sich auf die Suche nach vergessenen Spuren und ungehörten Geschichten machen. Im Projekt engagieren sich insgesamt zehn lokale Initiativen. Jeweils drei dieser Gruppen in Polen, Deutschland und Frankreich arbeiten bereits seit März 2022 in einem Online-Dialog sowie Präsenzworkshops zusammen. Neu hinzugekommen sind Jugendliche aus Italien, die im Rahmen einer internationalen Jugendbegegnung im August in Treviso zum Projekt gefunden haben.

Konkret verfolgt das Projekt sechs Ziele:

  1. Vernetzung und internationale Zusammenarbeit;
  2. Erstellung von 360°-Rundgängen noch unerschlossener europäischer Erinnerungsorte der Zwangsarbeit;
  3. Neuartiger Einsatz von Zeitzeug*innengesprächen durch deren Integration in digitale Räume;
  4. Erstellung einer virtuellen Ausstellung mit interaktiven Elementen zu lokalen Geschichten über NS Zwangsarbeit aus West- und Osteuropa, die in Bezug zueinander gesetzt werden;
  5. Erweiterung des Wissens über das NS-Unrecht um die transnationale Komponente Zwangsarbeit;
  6. Ermöglichung eines niedrigschwelligen, kostenfreien Zugangs durch die Veröffentlichung aller Workshop-Ergebnisse zur freien Verfügung mit entsprechender Lizensierung.

Das Projekt wird in drei verschiedenen Formaten umgesetzt. Alle zwei Wochen treffen sich die Teilnehmenden zu einem Online Mentoring.

Die kurzen aber intensiven, einstündigen Besprechungen per Zoom vernetzen die Teilnehmenden. Inhaltliche Inputs werden in Kleingruppen diskutiert. Die Teilnehmenden lernen, was ein gutes Storytelling ausmacht, sie bekommen Feedback zu ihren Konzeptideen und werden vorbereitet auf die kommenden Workshops. Regelmäßig besteht hier die Möglichkeit, Feedback zu den lokalen Arbeiten zu bekommen. An den Mentorings beteiligen sich jeweils ca. die Hälfte der Teilnehmenden, immer jedoch jeweils mindestens eine Person der lokalen Gruppen. Via Padlet.com erstellen wir einen leicht zugänglichen Wissensspeicher, der fortlaufend aufgefüllt wird. Drei mehrtägige Präsenzworkshops in Berlin, Metz und Kreisau bieten Raum für eine intensive Auseinandersetzung mit nationalen Perspektiven und für persönliche Begegnung. Externe Referent*innen, Zeitzeug*innengespräche und Besuche von Gedenkstätten fördern die Reflexion einer europäischen Erinnerungskultur. Die achttägige internationale Jugendbegegnung in Treviso, Italien, eröffnet den Blick auf eine weitere Opfergruppe und nationale Perspektive.

Archives polish presentation Foto: Ana Gruzlewska

Herzstück des Projekts ist aber die Erstellung digitaler Erinnerungsräume. Bereits beim Workshop in Berlin haben unsere Technikpartner von Blickwinkel Tour aus Nürnberg die digitale 360°-Technik des History-Maker-Kits In der Box des History-Maker-Kits sind eine 360-Grad-Kamera, ein Stativ, eine VR-Brille, drahtlose Mikrofone sowie ein Tablet für audio-visuelle Aufnahmen enthalten. vorgestellt und erste Proberäume entwickelt. Innerhalb eines Tages haben sich die Teilnehmenden mit der Handhabung der Kameras, den Möglichkeiten der Audiotechnik und insbesondere der Plattform Mozilla Hubs vertraut gemacht. Mozilla Hubs ist eine kostenfreie, experimentelle, VR-freundliche Plattform um eigene benutzerdefinierte Szene online zu erstellen. Jede lokale Gruppe hat im Anschluss eine Box mit dem technischen Equipment erhalten, um ihren digitalen Raum selbst zu gestalten. Um die Programmierung zu erleichtern und eine einheitliche Ästhetik zu entwickeln, können sie dabei auf ein für das Projekt entworfenes Framework zurückgreifen. Kernelement der Räume sind 360°-Fotografien, die den Besucher*innen ein immersives Erlebnis ermöglichen. In diese Rundum-Bilder werden unterschiedliche audiovisuelle Materialien eingebaut, die die Jugendlichen in den Archiven gefunden haben, die sie selbst aufgezeichnet haben, für die sie Interviews geführt haben oder die Stimmen von Zeitzeugen neu zum Leben erwecken. Die Räume sind miteinander verknüpft und so wird am Ende ein multinationaler digitaler Erinnerungsraum entstehen, der unbegrenzt erweiterbar ist. Das immersive Erleben der Räume wird mittels einer VR-Brille besonders intensiv. Der kostenfreie und leicht zugängliche Weg in das digitale Museum per URL-Klick ist aber auch per Internetbrowser möglich.

Erinnerungskulturen ändern sich über die Jahre – ebenso wie die mediale Darstellung dieser Erinnerungen. Alle praktischen Erfahrungen weisen darauf hin, dass Wissensvermittlung nur gelingt, wenn sie in Kontexte partizipativer, kreativer oder künstlerischer Aneignungsformen eingebettet und gleichzeitig als eigenes Bildungsziel mitkonzipiert ist.

Einblicke in die europäische Dimension von NS-Zwangsarbeit

Die Räume erzählen unterschiedlichste Geschichten: vom Nordbahnhof in Bochum, von dem aus Menschen aus Bochum in Konzentrationslager und Ghettos deportiert und auch wieder nach Bochum zurückgeschickt wurden, um dort als Zwangsarbeiter zu arbeiten. In Erding erfährt man, was es mit dem Barackenlager auf sich hat und wie sich die Stadt an die Sklavenarbeit erinnert – oder auch nicht: Das Lager befand sich im Dorf Eichenkofen, einem Ortsteil des Landkreises Erding, in der Nähe von München. Zwangsarbeiter, die vor allem aus der Ukraine, Polen und Russland stammten, mussten auf dem Fliegerhorst arbeiten, genauer gesagt im nahe gelegenen Luftzeugamt, einige wurden auch in den umliegenden Bauernhöfen/Privathaushalten eingesetzt. Auf dem einzigen zivilen russischen Friedhof in Berlin weisen zwei Bronzetafeln in kyrillischer Schrift auf 13 gestorbene Kinder hin. Dieser Erinnerungsort bildet den Ausgangspunkt, um die Geschichte von Frauen und Kindern in der NS-Zwangsarbeit zu erzählen. In Polen erfahren wir über ein Zwangsarbeitslager, das sich in dem kleinen polnischen Dorf Grodziszcze befindet. Dort wird von Zwangsarbeitern erzählt, die in einer Mühle lebten, arbeiteten und starben. Ein weiterer Raum besteht aus 360°-Fotos vom neuen Flussbett in der Nähe des Schlosses Krzyżowa, das von Zwangsarbeitern verlegt wurde. Eine weitere polnische Gruppe hat als Schauplatz drei Orte gewählt – das Tierheim in Dzierżoniów, die Sportschule und einen Wald in der Nähe von Dzierżoniów und Pieszyce. Um den Raum interaktiv zu gestalten haben sie einen Film gedreht. Mit Zeitzeugenberichten, Bildern und zwei 360°-Fotos wird der Raum multivisuell gestaltet. In Frankreich lernen wir das örtliche Zwangsarbeitslager im Schloss La Gascherie in der Nähe von Nantes mit seinem großen Gelände kennen. Hier befand sich ein logistischer Stützpunkt der Nationalsozialisten, wo Gefangene und Zivilisten verschiedene Materialien aufbereiteten. In Scy-Chazelles in der Nähe von Metz wird die Geschichte des Klosters der Heimsuchung während des Dritten Reiches erzählen. Es diente als Rekrutierungslager für den Reichsarbeitsdienst (RAD) im annektierten Departement Moselle in Frankreich. In Angoulême wurden Tausende von Männern in mehrere Lager in ganz Europa deportiert. Von einem Denkmal, das an den Kampf der Menschen in der Charente erinnert, bis hin zu den Archiven und Tagebüchern, die heute noch erhalten sind, wird dieser digitale Raum einen exklusiven Einblick in das Leben der Menschen, die im Service du travail obligatoire STO (Pflichtarbeitsdienst) umkamen. Der Raum der italienischen Gruppe beschreibt das schwierige Schicksal der rund 800.000 Italienischen Militärinternierten (IMI), die in den Tagen unmittelbar nach der Ausrufung des Waffenstillstands Italiens am 8. September 1943 gefangengenommen und in die Gebiete Deutschlands deportiert wurden.

Mit einer Projektlaufzeit von nur 14 Monaten ist das Projekt ambitioniert und intensiv. Als ein möglicher Prototyp für vergleichbare Vorhaben eignet es sich schon heute. Das Engagement der Teilnehmenden, der große Spaß beim Arbeiten in virtuellen Welten und das lebhafte Interesse am Kennenlernen der nationalen Perspektiven auf ein europäisches historisches Ereignis und seine vielen individuellen Schicksale lassen aber den Erfolg schon erahnen. Im November 2022 werden wir bei der abschließenden Fachkonferenz in Krzyżowa/Kreisau unser virtuelles Museum mit den ersten zehn Räumen eröffnen.

Mehr Informationen zum Projekt auf Instagram @onboardingmemories.

Zur Autorin

Renate Krekeler-Koch ist Referentin für politische Bildung an der Europäischen Akademie Berlin und seit 2020 Mitglied in Kommission Erwachsenenbildung des AdB. Sie war viele Jahre in der internationalen Jugendarbeit tätig und hat zahlreiche Austauschprojekte zur historisch-politischen Bildung insbesondere im deutsch-israelischen Kontext konzipiert und begleitet.
rk@eab-berlin.eu

Literatur

EVZ – Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (Hrsg.) (2022): MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor Studie 5, inhaltlich verantwortet durch das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG); www.stiftung-evz.de/assets/1_Was_wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fuer_lebendiges_Erinnern/MEMO_Studie/MEMO_5_2022/evz_brosch_memo_2022_de_final.pdf (Zugriff: 31.08.2022)