Anregungen für eine subjektorientierte politische Bildung
In der Migrationsforschung sind bislang die Perspektiven junger Erwachsener (19–29 Jahre) ohne Migrationserfahrung in Bezug auf ihre Vorstellungen zu Integration wenig erforscht. Im Rahmen des EU-Forschungsprojektes „MIMY – EMpowerment through liquid Integration of Migrant Youth in vulnerable conditions“ The research project MIMY was funded by European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under Grant Agreement No. 870700. wurden deshalb die Wahrnehmungen und Erfahrungen junger Erwachsener in vulnerablen Lebenssituationen auf ihre Vorstellungen und Erfahrungen zu Migration und Integration hin untersucht. In diesem Artikel werden die Ergebnisse aus einer Teilstudie des Projektes aus der ländlich geprägten, niedersächsischen Region Holzminden vorgestellt. In der Auswertung zeigte sich eine interessante Verbindungslinie: Die befragten Jugendlichen interpretierten Integration vor allem aus der Perspektive eigener Ausgrenzungserfahrungen. Daran anschließend stellen wir in diesem Beitrag die Frage nach möglichen Konsequenzen für Ansätze der politischen Bildung bzw. einer erweiterten Lesart des Konzepts Subjektorientierung.
Forschungsinteresse und Untersuchungsdesign
Im Rahmen der Fallstudie wurden biographische Interviews mit 12 jungen Erwachsenen ohne eigene Migrationserfahrung geführt, die sich in unterschiedlichen vulnerablen Lebenssituationen befinden, z. B. im Übergang in Arbeit, als Alleinerziehende oder mit einer Beeinträchtigung. Ein Teil der befragten jungen Menschen hat einen familiären Migrationshintergrund. Ein Ziel war, die Perspektiven junger Nicht-Migrant*innen hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen und Teilhabe in unterschiedlichen Lebensbereichen zu erfassen. Vulnerabilität verstehen wir dabei nicht als subjektives Merkmal, sondern als mögliche Erfahrung in bestimmten Lebenssituationen, in denen Verletzbarkeit strukturell hergestellt wird (vgl. Gilodi/Albert/Nienaber 2022).
Junge Menschen ohne Migrationserfahrung sind, wie junge Migrant*innen, in lokalen Gelegenheitsstrukturen (z. B. Arbeitsmarkt, Bildungseinrichtungen, soziales und politisches Umfeld) verortet, die ihre Handlungsmöglichkeiten rahmen. Gleichzeitig sind sie jenseits der strukturellen Ebene, nämlich auf der sozial-interaktiven Ebene in spezifischen Sozialräumen, die Peers der jungen Migrant*innen. Der Leitfaden mit offenen Erzählaufforderungen beinhaltete deshalb u. a. den Bereich der Kontakte zu Menschen mit Migrationserfahrung und zu Vorstellungen über die Herausforderungen, die sich diesen stellen. Zudem ging es um das Verständnis von Integration und was es bedeutet, gut integriert zu sein. Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert. Die Auswertung erfolgte auf der Grundlage der Grounded Theory Methodologie (vgl. Glaser/Strauss 2010).
Eigene Erfahrungen als Grundlage für die Wahrnehmung der Situation von jungen Migrant*innen
In der Auswertung zeigte sich, dass die Perspektiven der befragten jungen Erwachsenen auf Migration und Integration häufig von der Wahrnehmung ihrer eigenen Situation, ihren Problemen, Bedürfnissen und Hoffnungen geprägt sind. Dabei stehen insbesondere eigene Ausschlusserfahrungen im Vordergrund.
Die jungen Menschen betrachten Spracherwerb, Bildungserfolg und Arbeitsmarktintegration als wichtige Herausforderungen für junge Migrant*innen, vor allem, wenn sie selbst Benachteiligungen in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt erlebt haben.
So stellt eine interviewte Person mit einer körperlichen Beeinträchtigung fest: „Also meine größte Herausforderung war, dass ich so akzeptiert werde, wie ich bin.“ Als größte Schwierigkeit für junge Migrant*innen in Deutschland sieht sie, „angenommen zu werden“ und zieht eine Verbindung zu ihren eigenen Erfahrungen: „Weil die Leute, ich glaube, die diskriminieren ja schon mich und wenn dann noch Ausländer, könnte schwierig werden.“
Sprachkenntnisse, einen Schulabschluss und die Einmündung in eine Erwerbstätigkeit, hält ein anderer Jugendlicher für eine große Anforderung an Migrant*innen und spiegelt damit eigene Erfahrungen: „Im Deutschunterricht lief das überhaupt nicht.“ „Die Herausforderung, die ich in der Zukunft sehe, ist ganz klar Arbeit zu finden, eigentlich nur Arbeit.“ Er fühlt sich aufgrund fehlender Bildungserfolge „abgehängt“ und sagt über junge Migrant*innen: „Den Anschluss an die Gesellschaft – ich denk mal das ist denen ihr großes Problem.“
Diese Erfahrungen, das ist ein weiterer Befund der Auswertung, führen bei einigen der Interviewten dazu, dass sie aktiv junge Migrant*innen unterstützen wollen, die potenziell die von ihnen selbst erfahrenen Ausschlüsse und Diskriminierungen erleben. So sieht eine Person mit Mobbingerfahrungen ihre Aufgabe darin, aktiv auf junge Migrant*innen zuzugehen, „damit die sich so ein bisschen eingebunden fühlen”. Ein Jugendlicher mit familiärem Migrationshintergrund will im Bildungsbereich arbeiten, um auf Grundlage seiner eigenen Diskriminierungserfahrungen in der Schulzeit, junge Migrant*innen, die ähnliche Erfahrungen in der Schule machen, zu unterstützen: „Weil, ich kann jetzt auch nicht auf Anhieb nachvollziehen, wie‘s ist, indisch zu sein so, weißte so? (…) Aber zumindest weiß ich so vom Muster her, wenn es so um diese Differenzen geht.“ Hier spricht er explizit nicht einen gemeinsamen natio-ethnischen Hintergrund als Grundlage seiner Motivation an, sondern die geteilte Erfahrung von Differenz.
Othering-Erfahrungen
Die jungen Menschen betrachten Spracherwerb, Bildungserfolg und Arbeitsmarktintegration als wichtige Herausforderungen für junge Migrant*innen, vor allem, wenn sie selbst Benachteiligungen in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt erlebt haben. Neben diesen formalen Qualifikationen kann jedoch bei der Mehrzahl der Interviewten der Wunsch, von der Gesellschaft „angenommen“ oder „akzeptiert“ zu werden, als tragendes Bedürfnis rekonstruiert werden. Erfahrungen fehlender gesellschaftlicher Anerkennung in den biographischen Erzählungen der jungen Menschen stellen auch den Rahmen für ihre Haltungen gegenüber den Themen Migration und Integration dar.

So beschreibt ein Jugendlicher seine Erfahrung, aufgrund seiner Hobbies und seines Sozialverhaltens als „anders“ angesehen und von seiner Umgebung nicht akzeptiert bzw. verurteilt zu werden: „Das Anderssein (…) es ist halt schon schwierig hier was zu finden, was man machen darf ohne nicht gleich (…) abgestempelt zu werden.“ Die größte Herausforderung für Migrant*innen ist für ihn: „Erstmal akzeptiert zu werden, ist schon das Schwierigste.“ Eine andere Jugendliche, die von ihren Mobbingerfahrungen berichtet, geht davon aus, dass „nicht diskriminiert oder fertig gemacht“ zu werden, das Wichtigste für Neuzugewanderte sei.
Erfahrungen, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden oder nicht als volles Mitglied akzeptiert zu sein, werden in den Sozialwissenschaften unter dem Begriff des Othering untersucht. Dieses Konzept, das an die Arbeiten der postkolonialen Theoretiker*innen Edward Said (1978) und Gayatri Spivak (1985) anschließt, beschreibt „a discursive process by which a dominant in-group (‚Us‘, the Self) constructs one or many dominated out-groups (‚Them‘, Other) by stigmatizing a difference – real or imagined – presented as a negation of identity and thus a motive for potential discrimination” (Staszak 2009). Während das Konzept im postkolonialen Kontext vor allem Othering-Prozesse auf Grundlage von Herkunft und Rassifizierung addressierte, wird es zunehmend auch auf andere Differenzkategorien wie sexuelle Orientierung (vgl. z. B. Rothmann/Simmons 2015) oder Behinderung (vgl. z. B. Mik-Meyer 2016) übertragen.
Erfahrungen fehlender gesellschaftlicher Anerkennung in den biographischen Erzählungen der jungen Menschen stellen auch den Rahmen für ihre Haltungen gegenüber den Themen Migration und Integration dar.
Für unsere Interviewpartner*innen steht im Zentrum der Erfahrung bzw. Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung das Gefühl, „anders“ zu sein und in ihrem Sein (nicht) akzeptiert zu werden: „Also meine größte Herausforderung war, dass ich so akzeptiert werde, wie ich bin.“ Gemein ist ihnen, dass sie durch ihre eigene Erfahrung des Anders-Gemacht-Werdens als ausschließende und verletzende Erfahrung sensibilisiert sind für potenzielle Ausschlusserfahrungen junger Migrant*innen. Gerade diese Erfahrungen können eine Grundlage für das Verständnis für die Situation von jungen Migrant*innen bieten.
Fazit: Bedeutung für eine subjektorientierte politische Bildung
Auf der Grundlage unserer Interviewanalysen können wir nicht behaupten, dass junge Menschen ohne eigene Migrationserfahrung in vulnerablen Lebenssituationen generell offener gegenüber Migrant*innen sind als strukturell und situativ privilegiertere junge Menschen. Die aus diesem biografischen Ansatz abgeleiteten empirischen Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass gelebte Erfahrungen von Vulnerabilität, insbesondere Ausgrenzungserfahrungen aufgrund von Othering-Prozessen, junge Menschen für die Probleme von Migrant*innen sensibilisieren können.

Während einzelne Studien auf die Bedeutung des familiären Hintergrunds und des Geschlechts für Einstellungen gegenüber Migrant*innen aufmerksam machen (vgl. Somerkoski 2021), auf die Bedeutung medialer und politischer Diskurse (vgl. Awramiuk-Godun/Górny 2020) sowie auf die generelle Offenheit junger Menschen gegenüber Migrant*innen bei parallel zunehmender Polarisierung der Aussagen (vgl. Pavelková/Hanus/Hasman 2020; Janmaat/Keating 2019) hinweisen, öffnen unsere Ergebnisse eine andere Perspektive: Die von den Interviewten gezogenen Parallelen zwischen eigenen (Ausschluss-)Erfahrungen und Integrationsvorstellungen auch in Bezug auf Migrant*innen legen nahe, dies zum Ausgangspunkt einer inklusiven (politischen) Bildung zu nehmen. In Anlehnung an Paolo Freire können diese Vorstellungen bzw. die darin geäußerten Erfahrungen als „generative Themen“ verstanden werden: „In der Art und Weise, in der sie über die Welt denken und der Welt begegnen – fatalistisch, dynamisch oder statisch –, begegnet man ihren generativen Themen.“ (Freire 1991, S. 88)
Die von den Interviewten gezogenen Parallelen zwischen eigenen (Ausschluss-)Erfahrungen und Integrationsvorstellungen auch in Bezug auf Migrant*innen legen nahe, dies zum Ausgangspunkt einer inklusiven (politischen) Bildung zu nehmen.
Damit wird zum einen das Konzept der Subjektorientierung erweitert. Dieses zentrale Gestaltungsprinzip (politischer) Bildung (vgl. u. a. Erben/Schlottau/Waldmann 2013, S. 26) wird gegenwärtig vor allem auf artikulierte Themen, Fragestellungen und Wahrnehmungen von bzw. Erfahrungen mit politischen und gesellschaftlichen Vorgängen bezogen, um die Adressat*innen „zu befähigen, politische Situationen im Lichte ihrer Interessen zu analysieren und zu beurteilen“ (Wohnig 2020) und ggf. zu verändern. Unsere Ergebnisse legen jedoch nahe, die Idee der Subjektorientierung darüberhinausgehend auch auf die (auto-)biographischen Bewältigungsmuster und entsprechende Vorstellungen, die sich daraus entwickelt haben, auszudehnen.
Der Bezug zu eigenen gelebten Erfahrungen von Inklusion und Exklusion kann dabei auch dazu beitragen, die (oft hierarchisierende und exkludierende) Differenzierung zwischen „Migrant*innen“ und „Nicht-Migrant*innen“ zu dekonstruieren. Wie Erkenntnisse der neueren Integrationstheorie zeigen, entwickelt sich Deutschland zu einer postmigrantischen Gesellschaft, in der die Trennungslinien nicht mehr eindeutig zwischen „migrantisch“ und „deutsch“ verlaufen (vgl. Foroutan 2019). Dies deckt sich mit den Ergebnissen unserer Forschung und der Aussage einer Jugendlichen über sich selbst und Migrant*innen, zeigen zu wollen „dass wir auch normale Menschen sind“. Damit wird eine klare Trennungslinie zwischen der Dominanzgesellschaft (vgl. Rommelspacher 1995) und einem „Wir“ deutlich, das von dieser Gesellschaft Diskriminierung erfährt. Gleichsam zeigen sich Risse in einem „Wir“ der deutschen natio-ethno-kulturellen Gemeinschaft (vgl. Mecheril 2003). Im Zusammenspiel mit der ausgeführten Subjektorientierung auf der Grundlage eigener Ausschlusserfahrungen, können diese Risse Ausgangspunkt für eine Bildungsarbeit zu Integrationsthemen sein, die nicht Migrant*innen als leidende „Andere“ adressiert, sondern auf eine inklusive Gesellschaft für Alle abzielt.
Zu den Autorinnen

dorothea.anong@hawk.de

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leonie.wagner@hawk.de