Außerschulische Bildung 4/2021

Political Correctness zwischen Gleichheit, Privilegien und Gerechtigkeit

Eine Auseinandersetzung an mehreren Fronten

Political Correctness wird als Auseinandersetzung rund um Gleichheit, Gerechtigkeit und Privilegien über eine Rekonstruktion der historischen Herausbildung des Konzepts und den zentralen Konflikt von Universalität und Partikularität nachgezeichnet, wie er in der Identitätspolitik zum Ausdruck und im unproduktiven Streit um den Vorrang von Ökonomie vs. Kultur zum Ausbruch kommt. Es werden Vorschläge für Regeln für solidarisches Streiten formuliert. Political Correctness ist ein notwendiges wie auch umstrittenes Charakteristikum demokratischer Auseinandersetzung und sollte deshalb engagiert und besonnen gepflegt werden. von Nina Degele

Wer den Begriff Political Correctness in wertschätzender Weise gebraucht, gilt häufig als naiv („es gibt Wichtigeres“) oder doktrinär („Sprachpolizei“). Das verwundert nicht. Denn einige mit Political Correctness verbundene, im gesellschaftlichen Mainstream als Anspruch verankerte und umgesetzte Forderungen stoßen auf mitunter heftigen Widerspruch. Dazu zählen geschlechterneutrale Stellenausschreibungen sowie die Tabuisierung und Nichtverwendung rassistischer Begriffe. Äußerungen über Political Correctness sind Statements und damit Positionierungen: Wer spricht wie? Welche Begriffe und Sprachformen werden gewählt, welche vermieden? Was wird nicht gesagt? Wer wird womit angesprochen? Jede Aussage ist eine Entscheidung. Das gilt auch für mich als weiße Autorin: Wenn ich von Leser*innen statt von Lesern schreibe und Begriffe wie das N-Wort vermeide, treffe ich damit Aussagen über Geschlechtergerechtigkeit, Sexismus, Rassismus und nicht-diskriminierende Sprache, verteidige bestimmte Sprachnormen und lehne andere ab. Wie ich über Political Correctness schreibe, ist meine Positionierung dazu (vgl. Degele 2020). Wie also verorte ich Political Correctness?

Political Correctness als anerkennendes Sprechen ist historisch

Political Correctness bezeichnet die Norm anerkennenden Sprechens gegenüber Minderheiten und ausgegrenzten Gruppen. Dies umfasst Würde, Respekt, Vermeidung von Beleidigungen und Ausgrenzungen. Politisch korrektes Handeln und Sprechen zielt darauf, ausgegrenzte oder wenig gehörte Gruppen anzuerkennen und einzubeziehen. Dazu gehört auch die Reflexion eigener Privilegien: Wer im eigenen Altbau hat auf dem Schirm, wie schwer erreichbar schon der erste Stock für Rollstuhlfahrer*innen ist? Wer kann nachvollziehen, wie ausgrenzend sich die permanent gehörte Frage „Woher kommst du?“ für nicht als deutsch wahrgenommene Menschen anfühlt? Im Verständnis von Political Correctness konvergieren Denken, Sprechen und Handeln. Grundsätzlich kann das Bilder von Fürsorge und Schutz oder auch von Strenge und Zensur aktivieren. Aus der mit Deutungsrahmen (Frames) arbeitenden linguistischen Ideologieforschung gibt es dazu ein ernüchterndes Ergebnis: „Der Frame, der durch Political Correctness aktiviert wird, erzählt von politischer Bevormundung und Einmischung, nicht aber von Empathie und Schutz.“ (Wehling 2016a, S. 301) Das liegt an den beiden Komponenten des Ausdrucks: Politisch impliziert Regierung und Einmischung, korrekt distanziert sich vom spontanen täglichen Miteinander und steht für eine Reglementierung durch andere. Sprache macht etwas mit der Art, über Dinge zu denken. Beispielsweise ist das Simulieren von Bewegungen (z. B. das Benutzen eines Hammers) Teil des Erfassens der Wortbedeutung. Menschen tun oft das, was sie denken, weshalb sie für ein Verständnis sprachliche Informationen oft simulieren – schwierig ist beispielsweise die Erklärung von „Wendeltreppe“ ohne den Gebrauch von Gesten. Dass sich Sprache direkt in Handlungen übersetzen lässt, konnte experimentell nachgewiesen werden. Wenn beispielsweise Testpersonen entscheiden müssen, ob Patient*innen mit einer schweren Krankheit eine möglicherweise heilende Operation auf sich nehmen sollen, und das Sterberisiko dabei zehn Prozent beträgt, hat die sprachliche Präsentation eindeutige Effekte: „Jene Probanden, denen dieser Fakt als 90-prozentige Überlebenschance kommuniziert wurde, entschieden sich für den Eingriff. Jene aber, denen der Fakt als 10-prozentiges Sterberisiko vermittelt wurde, entschieden sich dagegen.“ (Wehling 2016b, S. 46) Hier gibt es keinen Ausweg, schon die Reihenfolge der Nennung beeinflusst die Entscheidung: Ein Frame hat immer Vorrang. Das gilt auch für geschlechtergerechtes Sprechen – was den Widerstand dagegen erklären mag: Mit der Warnung vor Einschränkung der Redefreiheit und einer Ideologie sprachlicher Gängelung etwa wollte der Landesvorsitzende der Hamburger CDU im Frühjahr 2021 das Gendern bei staatlichen Stellen verbieten lassen. Aber wie sollen sich Frauen mitgemeint fühlen, wenn sie nicht genannt werden? Wie mitgedacht fühlen sich Schwarze Menschen, wenn sie als „hautfarbene“ Pflaster nur beigefarbene Produkte angeboten bekommen (vgl. El Ouassil 2021)?

„Political Correctness bezeichnet die Norm anerkennenden Sprechens gegenüber Minderheiten und ausgegrenzten Gruppen. Dies umfasst Würde, Respekt …“ Foto: AdB

Entstanden ist das Konzept der Political Correctness in den USA im Zusammenhang mit der Civil Rights Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren, als es darum ging, dass ausgegrenzte Gruppen wie Schwarze Menschen und Frauen ein Anrecht auf Gleichberechtigung haben. Der Begriff selbst ist dort erst Anfang der 1990er Jahre populär geworden. George Bush warf 1991 der politischen Linken vor, sie würde mit dem Begriff Political Correctness die Gesellschaft spalten und Intoleranz verbreiten. Das Benennen fehlender Rechte wurde von ihm als ein Aufruf dazu interpretiert, Sonderrechte einzufordern – was sich als Steilvorlage für das darauf folgende Bashing von Linken und Liberalen entpuppte. In den Jahrzehnten davor, nämlich von den 1930ern bis zu den 1950ern, war das noch anders. Damals wurde der Begriff in den USA im Rückgriff auf sozialistische und kommunistische Kader eher ironisch verwendet, nämlich für solche Genoss*innen, die die Parteilinie gehorsam übererfüllt haben – das war „politically correct“. Anfangs war das ein Adjektiv. Es wurde dann aber von der konservativen und rechten Seite instrumentalisiert und zu einem Substantiv gemacht, zu einem Ding und einer Bewegung, was es nie war. Damit ist erst der Tatbestand geschaffen worden, der von Anfang an damit gleichgesetzt wurde, dass Political Correctness ein Angriff auf die freie Rede sei. Eine ähnliche Instrumentalisierung erfuhr Political Correctness in Deutschland in den 1990er Jahren, wo „Politische Korrektheit“ als Kampfbegriff und Sprach-Terror diskreditiert wurde, und sich vor allem das Feuilleton gegen vermeintliche „Moralkeulen“ zur Wehr setzte – bis heute.

Politisch korrektes Handeln und Sprechen zielt darauf, ausgegrenzte oder wenig gehörte Gruppen anzuerkennen und einzubeziehen.

Über die Ablehnung der Diskriminierung von Frauen und Minderheiten besteht zwar weitgehend gesellschaftlicher Konsens, nicht aber über den Weg dorthin – soll es für Benachteiligte spezielle Förderprogramme und/oder Quoten geben? Soll eine institutionelle Bevorzugung die vorhandene strukturelle gesellschaftliche Benachteiligung reduzieren und Gleichberechtigung schneller herstellen? Auch dazu ist ein Blick zurück hilfreich. In den USA der 1960er haben sich progressive und konservative Lager um die Frage gebildet, ob es um gleiche Möglichkeitsrechte (equality of opportunity) oder um die Gleichheit der Resultate (equality of result) gehen solle. Das Lager der Konservativen beharrte dabei auf gleichen Möglichkeitsrechten oder Chancengleichheit (equality of opportunity). Sie fürchteten eine Unterminierung intellektueller Qualität und Qualifikation durch die obligatorische Berücksichtigung von race und Geschlecht als Kriterium für die Vergabe von Studienplätzen, Stellen und ähnlichem. Im Vordergrund standen die Rechte des Individuums statt der Gruppe. Das war kompatibel mit der Orientierung an US-amerikanischen Werten wie Leistung, Selbsthilfe und Individualismus. Konsequenz war die Forderung nach weniger Staat. Auf der anderen Seite betonten Progressive die Rechte von Minderheiten und forderten eine Gleichheit des Ergebnisses (equality of result). Mittel dazu waren beispielsweise Quotenregelungen bei Anstellungen oder Hochschulzulassungen. Oberstes Ziel war soziale Gerechtigkeit, wozu eine proportionale Vertretung aller gesellschaftlichen Gruppen im System als erforderlich erachtet wurde. Gewährleisten konnten dies in den Augen der Befürworter*innen nur staatliche Eingriffe durch mehr Gesetze.

Identitätspolitik als Streit um Universalismus vs. Partikularismus

Diese unterschiedlichen Sichtweisen erklären auch heutige Auseinandersetzungen: Die Ermöglichung von Gleichheit wird mit Einschränkung des eigenen (privilegierten) Status gleichgesetzt und abgelehnt; ausgetragen wird die Debatte häufig um (vermeintlich eingeschränkte) Meinungsfreiheit. Damit geht es um den Zusammenhalt von Gesellschaft: Wer ist wie miteinander verbunden, wie sieht es mit Zugehörigkeit, Solidarität und Freiheit aus? Das ist das Terrain der häufig synonym zu Political Correctness verwendeten Identitätspolitik, worauf beispielsweise die Schwarze Politikerin Aminata Touré von den Grünen hinweist: „Wenn in Deutschland über Identitätspolitik gesprochen wird, hat man das Gefühl, es geht um eine diskriminierte Minderheit, die sich angeblich den ganzen Tag nur um sich selbst dreht und sagt: Das und das finden wir doof, und wir wollen, dass uns mehr zusteht als allen anderen. Und das ist völliger Bullshit. Es geht um Gleichberechtigung. Ich meine, es waren nicht die Grünen, die auf einem Heimatministerium bestanden haben. Und es sind auch nicht die Grünen, die darauf bestehen, Kreuze in öffentlichen Behörden aufzuhängen. Eigentlich ist das Identitätspolitik at its best. Nur nennt man das lieber Leitkulturdebatte, weil es hier die Dominanzgesellschaft ist, die Forderungen stellt.“ (Touré 2021) Dass Forderungen nach gleichen Rechten und Möglichkeiten als Identitätspolitik abgewertet werden, verwundert nicht: Privilegierten fallen die eigenen Privilegien nicht auf, sie erachten sie als selbstverständlich und erfahren eine Nicht-Privilegierung bzw. Gleichbehandlung als Abwertung (vgl. Degele 2021).

Die Ermöglichung von Gleichheit wird mit Einschränkung des eigenen (privilegierten) Status gleichgesetzt und abgelehnt; ausgetragen wird die Debatte häufig um (vermeintlich eingeschränkte) Meinungsfreiheit.

Stehen bei Identitätspolitik spezifische Gruppen von Menschen mit ihren jeweiligen Bedürfnissen und Besonderheiten im Mittelpunkt eigener Artikulation und politischer Aktionen, sind Universalismus versus Partikularismus dafür die entscheidenden Stichworte. So lautet ein häufiger Vorwurf gegen Identitätspolitik, dort würden partikuläre Akteur*innen ihre nur exklusiven Interessen vertreten, damit verbundene Privilegien verteidigen und dahinter das gemeinsame Ganze vergessen. Identitätspolitik erscheint hier als Politik der ersten Person, Political Correctness als larmoyante Weinerlichkeit bis hin zu Sprachterrorismus und beide stünden im Widerspruch zu universalen Idealen (vgl. aktuell Wagenknecht 2021; Fourest 2021). Das trifft nicht zu. Bewegungen wie Black Lives Matter oder MeToo geht es nicht um Spezialinteressen, sondern um die Mobilisierung und Solidarisierung von Bürger*innen, „um elementare Rechte einzufordern: etwa das Recht, nicht von der Polizei erschossen zu werden, oder das Recht, nicht sexuell belästigt oder gar vergewaltigt zu werden.“ (Müller 2019, S. 24) Die Vertreter*innen emanzipatorischer Bewegungen kritisieren also eine von Privilegierten behauptete, aber nicht eingelöste Universalität von Menschenrechten, daran ist nichts partikular.

Gleichwohl herrscht auch bei eigentlich Gleichgesinnten keine Einigkeit, wo Identitätspolitik übertrieben und wo sie notwendig ist. Gemeinsame Gegner*innen können zwar einen, aber Bewegungen zersplittern schnell, wenn es um kollektive Forderungen geht. „Entsprechend groß sind Unverständnis und Häme nicht nur in der gemäßigten und liberalen Linken darüber, dass in linken Szenen derzeit vor allem darüber gestritten wird, ob das Tragen von Dreadlocks oder das Servieren von vietnamesischen Banh Mi in der Uni-Mensa unter Cultural Appropriation fällt und ob Vagina Cupcakes die Gefühle von Frauen ohne Vulva verletzen – während drumherum der politische und ökologische Weltuntergang tobt.“ (Susemichel/Kastner 2018, S. 18) So ginge es der internet- wie auch beschwerdeaffinen Generation Schneeflocke Bei „Snowflake Generation“ handelt es sich um eine abwertende Bezeichnung der zwischen den frühen 1980er und späten 1990er Jahren Geborenen (Millenials) als überempfindliche und auf die eigene Verletzbarkeit fokussierte Generation (vgl. Nicholson 2016). gar nicht mehr um tatsächliche Politik, sondern um die Inszenierung des eigenen Leidens, das ganz im Sinne einer Unterdrückungsolympiade in akademisches Kapital konvertiert werde. Dies käme letztlich einem Kapitalismus zugute, der Klasseninteressen auflöse und individualisiere. Der Vorwurf lautet mithin, Political Correctness sei ein neoliberales Phänomen, das mit seinem Fokus auf Identitäten sich verschärfende ökonomische Ungleichheit auf die Sprachebene verschiebe und damit entpolitisiere. Schlimmer noch: Political Correctness sei eine konterrevolutionäre Bewegung, bei der „Moralisten ohne Mitgefühl“ (Wagenknecht 2021, S. 25) Gleichheit durch Diversität ersetzen und echte linke Politik durch postmoderne Pseudopolitik. In dieser Perspektive zerfalle sozialer Protest in Einzelinteressen, was im psychologischen Begriff der Kränkung seinen Ausdruck finde, für Vereinzelung des Erlebens und deshalb für Entsolidarisierung stehe. Der Aufschrei als „Beschwerdesound unserer Zeit“ (Stegemann 2018, S. 116) gehöre damit zu Political Correctness und Identitätspolitik wie Neoliberalismus zu Ungleichheit. Bemängelt wird, dass Moral nur bei Verstößen gegen Political Correctness zur Sprache komme und nicht den Neoliberalismus selbst kritisiere. Die Linke transformiere Sach- in Moralfragen, womit Political Correctness nichts anderes sei als ein Mittel zur Sicherung von Privilegien (vgl. ebd., S. 184). Mit diesem Fokus auf Identität statt auf soziale Ungleichheit werde Symbolpolitik ebenso wie Selbstoptimierung zum kostenneutralen Ersatz für Umverteilung. In diesem Verständnis sei das Gefühl des Gekränktseins hier zu einer neuen Währung geworden, womit moralische Kommunikation in der Öffentlichkeit dominiere. Verhandelt werde das als Political Correctness – und ökonomische Faktoren rund um Klasse vergessen. Stattdessen käme es jetzt aber darauf an, Identitätspolitik zurückzuweisen und sozioökonomische Interessen anzuerkennen. Gleichzeitig müsse Klasse wieder ins Zentrum rücken, sonst degeneriere die Linke zu einer liberalen Lobby.

Zusammenhalt von Gesellschaft: Wer ist wie miteinander verbunden, wie sieht es mit Zugehörigkeit, Solidarität und Freiheit aus? Foto: AdB

Was ist daran problematisch? Identitätspolitik wird den Kämpfen von Emanzipationsbewegungen der Frauen, Lesben, Schwulen oder Schwarzen zugeschrieben, nicht aber dem Weiß- und Mannsein von Arbeitern, die für höhere Löhne streiten. Historisch war aber auch der Klassenkampf Identitätspolitik: Bei Marx musste ein kollektives Bewusstsein (Klasse für sich) erst hergestellt werden, Identitätspolitik war ein Mittel für Klassenpolitik, und diese beruhte auf sozialen Lagen, innerhalb derer die Akteur*innen ihre Interessen fanden, formulierten und artikulierten. Das umfasste die Identifikation mit der eigenen Realität als Arbeiter*in, aber auch den Anspruch auf Definitionsmacht über diesen Status. Deshalb greift die Gegenüberstellung von Klasse und Kultur zu kurz. Es geht vielmehr um die Kritik am falschen Universalismusversprechen, das Identitätsgruppen zwingt, auf die eigene Nichtberücksichtigung aufmerksam zu machen. „Auch vermeintlich universelle Interessen sind letztlich Partikularinteressen – nur werden sie eben aus einer mächtigeren Position heraus formuliert. Emanzipatorische Identitätspolitik hat hingegen zumeist durchaus universalistische Ansprüche, indem sie verlangt, dass gleiche Rechte tatsächlich für alle Menschen gelten sollen.“ (Susemichel/Kastner 2018, S. 25) Die Kämpfe der sozialen Bewegungen sind kein Gegensatz von Klassenkämpfen, sondern stehen in deren Zentrum. Stattdessen erfolgt die Kritik einer Reduktion von Identitätspolitik auf Kultur meist aus der Perspektive von Privilegierten, die ihre Privilegien nicht thematisieren (wollen). Gerechtigkeit beißt sich nicht mit Identitätspolitik und schon gar nicht mit Political Correctness, wohl aber mit Privilegien.

Gerechtigkeit beißt sich nicht mit Identitätspolitik und schon gar nicht mit Political Correctness, wohl aber mit Privilegien.

Regeln für solidarisches Streiten

Vor diesem Hintergrund sind die Anforderungen an einen fair und diskriminierungsfrei geführten Umgang nicht zu unterschätzen – im Hinblick auf konservative wie auch aus linker Perspektive formulierte Einwände. Ich will dazu drei Regeln in den Kontext solidarischen Streitens stellen, das sich an sozialen Machtverhältnissen, legitim Sprechenden und verwendetem Vokabular orientiert.

a) Stärkere/Schwächere: nicht nach unten treten.

Vermutlich am wichtigsten für ein wertschätzendes Miteinander ist die Maxime, nicht nach unten zu treten. Dies orientiert sich an gesellschaftlichem Machtungleichgewicht und nimmt Partei für die Schwächeren. Zum einen handelt es sich um real diskriminierte Gruppen, zum anderen um einen relevanten Teil von Betroffenen. Als Orientierung listet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) diskriminierte bzw. diskriminierungsanfällige Gruppen auf.

b) Betroffene zu Wort kommen lassen.

Es ist neben der Frage der Machtposition die Zugehörigkeit, die Legitimation verleiht. Das betrifft beispielsweise Witze über bestimmte Bevölkerungsgruppen, die sinnvollerweise nicht von Personen außerhalb der jeweiligen Community verbreitet werden sollten. Ebenso sollten sich Massenmedien und öffentliche Institutionen an der Maxime orientieren, weniger über Betroffene zu reden und sie stattdessen eher selbst sprechen, erklären und moderieren zu lassen.

c) Begriffe von Betroffenen bevorzugen.

Weiter sollte sich die Wahl der richtigen Begriffe und Ausdrucksweisen an den Wünschen der Beteiligten orientieren. Tabu ist beispielsweise die Verwendung von Begriffen mit einer rassistischen Vergangenheit, die damit bezeichnete Menschen als diskriminierend empfinden. Wie auch bei Cultural Appropriation kommt historisches Wissen als strukturelle Komponente ins Spiel: Handelt es sich bei Blackfacing oder Weißen mit Dreadlocks um eine Re-Essenzialisierung oder eine Dekonstruktion? Bei Blackfacing ist der kolonialistische, historische Bezug eindeutig, bei Dreadlocks wird mehr Auseinandersetzung erforderlich sein.

Die Orientierung an den skizzierten Kriterien macht Korrektheitshandeln zu einem normativen und solidarischen Handeln: normativ als Orientierung an Gleichheit und Gerechtigkeit, solidarisch als eine Haltung der Verbundenheit mit anderen im Hinblick auf geteilte Ziele. In diesem Verständnis ist Solidarität eine Positionierung und nicht nur eine bloße Parteinahme für Gleiche und Ähnliche. Entscheidend ist dabei die Frage, wie Solidarität auch mit denjenigen möglich ist, mit denen nicht gemeinsame Erfahrungen, das Geschlecht und die Herkunft geteilt werden. Susemichel/Kastner (2021) begreifen diese Solidarität als unbedingt, weil sie auf Differenzen basiert und nicht auf geteilter Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Auch ist sie kein Kosten-Nutzen abwägendes Tauschgeschäft. Solidarität muss sich in diesem Verständnis noch nicht einmal auf gemeinsame Erfahrungen beziehen, sondern kann auf Verständnis und Wissen gründen. Ein Beispiel dafür ist die Solidarität von Feministinnen, Schwulen und Lesben mit Streikenden im britischen Bergbau 1984 und 1985 gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik der Premierministerin Margaret Thatcher (vgl. Bielstein 1988); die Differenz der Streikenden war auch eine wesentliche Stärke. Emanzipatorische Identitätspolitik ist mithin durchaus Ausgangpunkt für solidarische Praktiken, gleichzeitig aber auch der Ort internen Konflikts und Kritik. Das macht ein dialektisches Verhältnis von Identität und Differenz aus, das von Identität ausgeht, um sie dann zu überwinden: „Unbedingte Solidarität kann von (nicht-essenzialistischer) Identitätspolitik ausgehen, zielt aber auf die Auflösung dieser Identität ab.“ (Susemichel/Kastner 2021, S. 45)

Entscheidend ist die Frage, wie Solidarität auch mit denjenigen möglich ist, mit denen nicht gemeinsame Erfahrungen, das Geschlecht und die Herkunft geteilt werden.

Eine solche Haltung macht Hoffnung, ist aber bei vielen verloren gegangen, auch solchen, die sich dem gemeinsamen Ziel gesellschaftlicher Emanzipation und Gleichberechtigung verschrieben haben. „We need to learn, or re-learn, how to build comradeship and solidarity instead of doing capital’s work for it by condemning and abusing each other. This doesn’t mean, of course, that we must always agree – on the contrary, we must create conditions where disagreement can take place without fear of exclusion and excommunication.“ (Fisher 2013, S. 1) Wenn Political Correctness ernst gemeint ist, spricht dies für eine größere Fehlertoleranz. Eine solche fordert Loretta Ross (2019) in ihrem Plädoyer für eine verzeihende Call-in- statt einer Call-out-Kultur des Bloßstellens von Fehlern und des öffentlichen Niedermachens für sprachliche Missgriffe. Calling out ist gegen destruktive Angriffe sinnvoll, unbeabsichtigte Fehltritte sollten aber anders behandelt werden. Das soll sich in einem Calling in niederschlagen, das jemanden nicht wegen eines Fehlers anklagt, sondern nach Hintergründen gewählter Redeweise fragt – um aus Fehlern zu lernen. Auch und gerade das ist Political Correctness.

Zur Autorin

Dr. Nina Degele, Studium der Soziologie, Psychologie, politischen Wissenschaften und Philosophie in München und Frankfurt am Main, ist seit 2000 Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Körper und Sport, Nachhaltigkeit, qualitative Methoden.
nina.degele@soziologie.uni-freiburg.de

Literatur

Bielstein, Klaus (1988): Gewerkschaften, Neo-Konservatismus und ökonomischer Strukturwandel. Zur Strategie und Taktik der Gewerkschaften in Großbritannien. Bochum. Bochum: Studienverlag Brockmeyer
Degele, Nina (2020): Political Correctness. Warum nicht alle alles sagen dürfen. Weinheim: Beltz
Degele, Nina (2021): Privilegienblind reisen in Zeiten des Klimawandels. In: Zeitschrift Diskurs (i. E.)
El Ouassil, Samira (2021): Anti-Gender-Vorstoß von Christoph Ploß. Natürlich geht es auch um Ideale. In: SPIEGEL online, 27.05.2021; www.spiegel.de/kultur/gendern-unsere-wahrnehmungsluecken-a-27e10f57-8ad1-43d2-9389-cc84bfd976d6?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ (Zugriff: 17.08.2021)
Fisher, Mark (2013): Exiting the Vampire Castle. In: The North Star, 22.11.2013. OpenDemocracyUK, 24.11.2013; www.opendemocracy.net/ourkingdom/mark-fisher/exiting-vampire-castle (Zugriff: 17.08.2021)
Fourest, Caroline (2021): Generation Beleidigt – von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik. Berlin: Edition Tiamat
Müller, Jan-Werner (2019): „Das wahre Volk“ gegen alle anderen. Rechtspopulismus als Identitätspolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ 9–11/2019: Identitätspolitik; www.bpb.de/apuz/286506/das-wahre-volk-gegen-alle-anderen-rechtspopulismus-als-identitaetspolitik (Zugriff: 17.08.2021)
Nicholson, Rebecca (2016): „Poor little snowflake“ – the defining insult of 2016. In: The Guardian, 28.11.2016; www.theguardian.com/science/2016/nov/28/snowflake-insult-disdain-young-people (Zugriff: 17.08.2021)
Ross, Loretta (2019): I’m a Black Feminist. I Think Call-Out Culture Is Toxic. In: The New York Times, 17.08.2019; www.nytimes.com/2019/08/17/opinion/sunday/cancel-culture-call-out.html (Zugriff: 17.08.2021)
Stegemann, Bernd (2018): Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin: Matthes & Seitz
Susemichel, Lea/Jens Kastner (2018): Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster: Unrast
Susemichel, Lea/Jens Kastner (2021): Unbedingte Solidarität. In: Dies. (Hrsg.): Unbedingte Solidarität. Münster: Unrast, S. 13–48
Touré, Aminata (2021): „Ich bin nicht untypisch für die Politik“. Interview mit Marija Barišić und Johannes Korsche. In: Süddeutsche Zeitung; https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/gesellschaft/werwirsind-aminata-toure-im-sz-interview-e812210 (Zugriff: 17.08.2021)
Wagenknecht, Sahra (2021): Die Selbstgerechten. Frankfurt am Main: Campus
Wehling, Elisabeth (2016a): Alles, bitte nur keine „Political Correctness“. In: Forschung & Lehre 23, Nr. 4, S. 300–301
Wehling, Elisabeth (2016b): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln: von Halem