Außerschulische Bildung 3/2022

Politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Praxisbeispiele der Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung

In ihrem Beitrag betonen Ramona Kemper und Thomas Landini die Relevanz von politischer Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten und begründen, warum sie darin einen Baustein inklusiver politischer Bildung sehen. Sie stellen zwei Projekte der Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung vor und ziehen Schlüsse für Folgeprojekte. Damit möchten sie andere politische Bildner*innen ermutigen, selbst Projekte für Menschen mit Lernschwierigkeiten anzubieten, und stehen selbst für Kooperationen bereit. von Ramona Kemper und Thomas Landini

Zur Relevanz von politischer Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Die gleichberechtigte Teilhabe an Wahlen und am politischen Diskurs ist ein wesentliches Kriterium von Demokratien. Aus ihm ergibt sich auch der Anspruch, keine soziale Gruppe systematisch von politischen Diskursen und politischer Partizipation auszuschließen. Allerdings wurden noch bis vor kurzem Menschen vom Wahlrecht exkludiert, wenn sie auf „eine gerichtlich bestellte Betreuung in allen Angelegenheiten“ (Deutscher Bundestag 2019) angewiesen waren. Erst die Einführung des „inklusiven Wahlrechts“, das durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG 2019) notwendig geworden war, änderte das. Für einen Teil der Menschen mit Lernschwierigkeiten bedeutet die Änderung am Bundeswahlgesetz und am Europawahlgesetz also eine Zäsur. Sie haben erstmalig das Recht, als Bürger*innen wählen zu dürfen – ein bedeutender rechtlicher Schritt zur gleichberechtigten Partizipation an Wahlen.

Doch wie steht es um die politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten? Da der Terminus der geistigen Behinderung von Betroffenen zunehmend als „verletzend, diskriminierend und irreführend“ abgelehnt wird (Babilon 2018, S. 4), nutzen wir die von Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. bevorzugte Bezeichnung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ und schließen uns damit dem ersten Sammelband zur Didaktik der politischen Bildung an (vgl. Dönges et al. 2015).

Denn neben den rechtlichen Rahmenbedingungen, die nur eine notwendige Bedingung für politische Partizipation sein können, ist es insbesondere Aufgabe der politischen Bildung, zur Teilnahme an politischen Prozessen zu befähigen. So fordern auch die Herausgeber*innen des ersten Sammelbandes zur Didaktik der inklusiven politischen Bildung:

„Politische Partizipation von Menschen mit Lernschwierigkeiten ist aber keineswegs primär eine Rechtsfrage. Es ist eine Frage, die eine gesellschaftliche Diskussion erfordert. Auch die Politische Bildung ist aufgefordert, sich damit zu beschäftigen. Ihre Didaktik muss wesentlich stärker als bislang auf die spezifischen Belange der Menschen mit Lernschwierigkeiten ausgerichtet werden.“ (Dönges et al. 2015, S. 10)

Dass die normativen Ansprüche noch längst nicht in der Praxis angekommen sind, zeigt sich u. a. darin, dass es in den meisten Bundesländern keinen Politikunterricht an Förderschulen gibt (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung 2017). Auch in der außerschulischen politischen Bildung sind Angebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten verschwindend gering (vgl. Hufer 2015, S. 246 ff.).

Veranstaltung „Ich bin Politik“ Foto: Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig noch immer im Rahmen von „innovativen Formaten“ gefördert wird. Das gilt auch für die beiden unten beschriebenen Projekte. Klar ist: Die Förderung solcher Projekte in der politischen Bildung bedarf einer Verstetigung, denn nur so kann politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten langfristig Fuß fassen. Zu ihrer Didaktik möchten wir einen Beitrag leisten, indem wir zwei Seminarkonzepte inklusiver politischer Bildung vorstellen. In einem ersten Schritt begründen wir zunächst und in aller Kürze, weshalb politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten aus unserer Sicht als ein wesentlicher Baustein inklusiver politischer Bildung zu verstehen ist. Im Anschluss stellen wir mit „Ich bin Politik!“ und „Europa-Entdecker*innen“ zwei Seminar-Konzepte vor und erläutern abschließend unsere daraus gewonnenen Erkenntnisse.

Politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten als Baustein einer inklusiven politischen Bildung

Ein einheitliches Verständnis von Inklusion – geschweige denn von inklusiver politischer Bildung – gibt es nicht. Stattdessen hat man „(…) es vielmehr mit (…) einem Containerbegriff zu tun, unter dem sich sehr Unterschiedliches verbergen kann und der für sich genommen aktuell zwar Fortschritt symbolisiert, in der Sache aber bislang wenig klärt“ (Lüders 2014, S. 24).

Es wird zu häufig über Menschen mit Lernschwierigkeiten gesprochen, ohne sie selbst einzubeziehen. Fehlt ihre Perspektive, werden Exklusionsmechanismen gar nicht erst sichtbar.

Inklusion suggeriert „so etwas wie die gleichberechtigte/diskriminierungsfreie Teilhabe an allen Lebensbereichen“ (Boger 2015, S. 276, H. i. O.), und es mag gerade diese begriffliche Unschärfe sein, die zur politischen Popularität des Inklusionsbegriffes beiträgt (vgl. Wansing 2013, S. 16). Für uns politische Bildner*innen ist aber wichtig, dass der Begriff Inklusion nicht dazu benutzt wird, bestehende Verhältnisse zu beschönigen. Ganz im Gegenteil, denn: „Politische Bildung mit Blick auf eine ‚inklusive Gesellschaft‘ wird (…) zunächst von Exklusion zu sprechen haben.“ (Kronauer 2015, S. 19) Dementsprechend bedeutet inklusive politische Bildung für uns, in einem ersten Schritt herauszufinden, an welchen Stellen Gesellschaft gleichberechtigter und diskriminierungsärmer werden muss, um dann in einem zweiten Schritt selbst an dieser Zielsetzung mitzuwirken. Politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist demnach nur ein – wenn auch sehr wichtiger – Baustein inklusiver politischer Bildung.

Ein einheitliches Verständnis von Inklusion – geschweige denn von inklusiver politischer Bildung – gibt es nicht.

Für eine inklusive politische Bildung, die gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung von Menschen mit Lernschwierigkeiten kämpft, sehen wir Handlungsbedarf in insbesondere drei Punkten:

  1. Wir haben oben bereits beschrieben, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten von politischer Bildung zu wenig beachtet werden. Dieser Tatsache setzen wir zielgruppenorientierte Formate der politischen Bildung entgegen. Wir schließen uns damit Dönges und Köhler (2015, S. 96) an: „Zielgruppenorientierung steht (…) für die unbedingte Berücksichtigung der vielfältigen Bedarfe von Menschen mit Behinderungen in inklusiven Bildungsangeboten und stellt einen Grundpfeiler inklusiver politischer Bildung dar.“
  2. Es wird zu häufig über Menschen mit Lernschwierigkeiten gesprochen, ohne sie selbst einzubeziehen. Fehlt ihre Perspektive, werden Exklusionsmechanismen gar nicht erst sichtbar. Wir wollen Menschen mit Lernschwierigkeiten dazu ermutigen, selbst als Teamer*innen im Themenfeld Inklusion tätig zu werden und Formate mitzugestalten.
  3. Menschen ohne Behinderungserfahrung ist häufig gar nicht bewusst, wenn sie durch Worte, Bilder oder Taten andere ausschließen. Wir wollen auf Othering-Prozesse aufmerksam machen und Normalität hinterfragen.

Konzepte der politischen Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten an der Fridtjof-Nansen-Akademie

Ich bin Politik! – Hintergrund, Organisation, Voraussetzungen

Ich bin Politik! wurde bislang zweimal (2018 und 2019) in Kooperation mit der Praxis für Entwicklungspädagogik in Mainz durchgeführt, aus deren Kreis auch einige Teilnehmende akquiriert wurden. Die restlichen Teilnehmenden kamen aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung der in.betrieb gGmbH Gesellschaft für Teilhabe und Integration. 2018 waren es acht, 2019 sieben Teilnehmende. Als Teilnahmevoraussetzung galt, dass die Teilnehmenden lesen und schreiben konnten. Ein Teil der Teilnehmenden reiste selbstständig mit dem Zug an, der anderer Teil kam mit einem Fahrdienst. Wir konnten Ich bin Politik! jeweils an fünf aufeinanderfolgenden Tagen von 9.00–12.00 Uhr (inklusive einer Kaffeepause von 30 Minuten) durchführen, den Abschluss der jeweiligen Sitzungen bildete das gemeinsame Mittagessen. Gefördert wurde Ich bin Politik! vom Weiterbildungsministerium des Landes Rheinland-Pfalz im Rahmen der Förderlinie „Innovative Formate der politischen Bildung“.

Phase 1: Was erwartet mich?

Hier geht es zunächst um ein formloses Kennenlernen und darum, Erwartungen an das Seminar zu formulieren. Auf die geäußerten Erwartungen kann im Verlauf des Seminars immer wieder Bezug genommen werden. Die Teilnehmenden werden über den groben Ablaufplan informiert und darüber, dass am letzten Seminartag Politiker*innen aus dem Landtag eingeladen werden, denen sie Fragen über ihren Alltag als Politiker*innen, aber auch zu inhaltlichen Positionen stellen können.

Erfahrungstipp: Es hilft, den Ablaufplan im Seminarraum aufzuhängen. So kann man Rückbezüge und Verweise auf Kommendes herstellen.

Träume, Wünsche und Ziele, geschrieben auf Körperumrissen Foto: Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung

Phase 2: Was hat Politik mit mir zu tun?

In der nächsten Phase sollen sich die Teilnehmenden in Paararbeit über Wünsche und Lebensträume austauschen. Hierzu können alle Teilnehmenden ihre Körperumrisse auf körpergroße Plakate zeichnen. Auf die Plakate mit den Körperumrissen werden Träume, Wünsche und Ziele geschrieben. Aus Zeitschriften können Bilder für Traumwohnungen, Traumreisen etc. ausgeschnitten werden, die dann von den Teilnehmenden auf die Plakate geklebt werden. Nach der Vorstellung der Körper-Collagen geht es um die Frage, welche dieser Wünsche umsetzbar sind und welche Bedingungen es dafür braucht. Ziel ist es, ein Bewusstsein dafür zu fördern, dass die Chance zur Umsetzung des eigenen Lebenstraums nicht nur eigen- sondern auch fremdbestimmt ist und damit nicht losgelöst von Politik existiert. Politische Teilhabe lohnt sich insofern schon allein mit Blick auf die eigenen Interessen und Gestaltungsspielräume.

Phase 3: Was ist Politik?

In der dritten Phase geht es um die Frage „Was ist Politik?“ Konkreter wird gefragt: „Was machen Parteien und Politiker*innen?“ Dabei ist es uns wichtig, Erfahrungsräume zu öffnen. Ein Beispiel: Um den Teilnehmenden die Bedeutung von Kommunikation und Kompromissen in der Politik zu verdeutlichen, werden sie in zwei Gruppen aufgeteilt, die jeweils ein Puzzle fertigstellen sollen. Was die Teilnehmenden nicht wissen: Ein Puzzleteil stammt aus der jeweils anderen Gruppe. Um das Problem zu lösen, müssen die Gruppen miteinander reden und die Puzzleteile tauschen. Im Anschluss an diese Übung wird festgehalten: Viele Probleme können wir alleine nicht lösen; wir brauchen also andere Menschen, die sich (gemeinsam mit uns) für unsere Interessen einsetzen. Zur Sprache kommen dabei auch Interessengruppen wie das Netzwerk People First Deutschland e. V., die sich dafür einsetzen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten mehr Rechte erhalten.

Phase 4: Was ist uns wichtig?

In dieser Phase werden verschiedene Themen gesammelt, mit denen sich Politiker*innen auseinandersetzen. Die Teilnehmenden werden aufgefordert, aus einer Auswahl verschiedener Themen diejenigen auszuwählen, für die sie selbst besonderen Handlungsbedarf sehen. Um konkret auf die ausgewählten Themen einzugehen, wird die Gruppe in zwei Kleingruppen aufgeteilt, in denen Videos zu den Themen angesehen werden. Zu den Videos stellen die Kursleiter*innen gezielte Fragen, die von den Teilnehmenden beantwortet werden. Aufbauend auf dem angeeigneten Wissen formulieren die Teilnehmenden selbst offene Fragen zum Thema.

Phase 5: Was macht ihr da?

In der letzten Phase haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, die in Phase 4 vorbereiteten Fragen direkt an aktive Politiker*innen zu richten. Diese sollten verschiedenen Parteien angehören, damit unterschiedliche Positionen verhandelt und Kontroversen deutlich werden. Je nach Themengebiet bietet es sich an, Lokal-, Landes-, Bundes- oder Europapolitiker*innen anzufragen. Die Abschlussdiskussion kann außerdem mit einem Besuch in einem Parlament (z. B. dem Landtag) verbunden werden.

Europa-Entdecker*innen – Hintergrund, Organisation, Voraussetzungen

Europa-Entdecker*innen konnten wir im Mai 2022 in Kooperation mit dem Europe Direct Ingelheim und der Gesellschaft der Europäischen Akademien e. V. im Modellprojekt Promoting Europe – Stärkung und Diversifizierung in der außerschulischen (europa)politischen Erwachsenenbildung durchführen. Die acht Teilnehmenden kamen aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung der in.betrieb gGmbH Gesellschaft für Teilhabe und Integration. Teilnahmevoraussetzung war es, dass die Teilnehmenden lesen und schreiben konnten. Einige Teilnehmende wurden mit dem Bus von der Werkstatt zu uns ans Weiterbildungszentrum gebracht. Die eintägige Veranstaltung ging von 9.00–15.30 Uhr.

Phase 1: Wer bin ich?

Der Tag beginnt mit einer aktivierenden Begrüßungsrunde im Stuhlkreis. Die Teilnehmenden bekommen eine Weltkugel in Form eines Plastikballs. Die Person, die die Weltkugel in der Hand hält, stellt sich vor und wirft den Ball weiter an die nächste Person, die sich vorstellen möchte. Danach werden 15 Aussagen von „Ich höre gerne Rockmusik.“ bis „Ich war schon einmal in Brüssel.“ und „Ich finde Politik manchmal kompliziert.“ vorgelesen. Je nachdem, ob die Teilnehmenden den Aussagen zustimmten oder nicht, reagieren sie mit einem „Daumen hoch“ oder einem „Daumen runter“. Die Kurzübung dient einem ersten Kennenlernen und hilft dabei, erste Vorerfahrungen der Teilnehmenden wahrzunehmen, an die im späteren Verlauf immer wieder angeknüpft werden kann.

Phase 2: Was ist die Europäische Union?

Auf der Weltkugel, die schon während der Kennenlernrunde im Einsatz war, werden die verschiedenen Kontinente angesehen. Danach machen die Teilnehmenden in Kleingruppenarbeit ein Europapuzzle, aus dem im Anschluss diejenigen Länder wieder entfernt werden, die nicht zur Europäischen Union gehören. Nach diesem Fokus auf die geografische Unterscheidung zwischen Europa und der Europäischen Union geht es um die Frage: „Warum haben sich einige Länder Europas zusammengeschlossen?“. Zur Beantwortung werden die Anfangsminuten eines Videos des Senders ARTE zum Thema EU auf YouTube angesehen, einmal in Normalgeschwindigkeit und ein zweites Mal in gedrosselter Geschwindigkeit. Daran anschließend wird über die Phrase „Gemeinsam sind wir stark!“ gesprochen. Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, werden dünne Holzstäbchen an die Teilnehmenden verteilt. Sie sollen sich die Stäbchen als Länder der EU vorstellen und in einem ersten Schritt versuchen, die Holzstäbchen durchzubrechen. Einzelne Stäbchen lassen sich einfach durchbrechen. Nimmt man aber 27 Stäbchen zusammen, kann man diese nicht mehr durchbrechen.

Erfahrungstipp: Auf YouTube kann man beim Abspielen einzelner Videos unter „Einstellungen“ die Wiedergabegeschwindigkeit drosseln und Untertitel einstellen.

Europa entdecken Foto: Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung

Phase 3: Wir entdecken die EU!

Nach der Vermittlung des EU-Basiswissens geht es in die Phase des Erforschens. Die Teilnehmenden können zwischen verschiedenen Schwerpunktthemen (Flucht & Asyl, Ukrainekrieg, Brexit, Parlament und Wahlen) auswählen. Die verschiedenen Themen sollten nicht als „Frontalunterricht“ vermittelt werden. Vielmehr soll erreicht werden, dass die Teilnehmenden als Entdecker*innen und Erforscher*innen selbstständig recherchieren. Hierzu werden sie in drei Gruppen eingeteilt, die zu dem jeweils ausgesuchten Thema ausgedruckte Materialien in leichter Sprache erhalten. Alle Gruppen bekommen die Aufgabe, die Informationen aufzuschreiben, die sie am interessantesten finden. Für die Ergebnissicherung gibt es zwei Möglichkeiten: Die „iPad-Gruppe“ hält ihre Erkenntnisse mithilfe der App Clips in einem Film fest, die „Stift-Gruppe“ hält das Erforschte mithilfe eines Anybook Audiostiftes fest. Die auf den Stift gesprochenen Audiodateien werden mit Klebepunkten verknüpft, die auf einer großen Europakarte aufgelebt werden. Hält man den Stift dann an einen der Klebepunkte auf der Karte (z. B. ins Mittelmeer), hört man die von den Teilnehmenden aufgesprochene Audiodatei (z. B. Informationen zum Thema Flucht). Nach dem ersten Durchgang tauschen die Teilnehmenden der Stift-Gruppe mit denen der iPad-Gruppe. Die iPads und die Audiostifte helfen dabei, barrierearm und diskriminierungsfrei zu arbeiten. Unter Diskriminerungsfreiheit verstehen wir hier den Verzicht auf spezielle Werkzeuge, die Menschen als „anders“ markieren. Stattdessen kommen Lernmittel, Techniken und Geräte zum Einsatz, die binnendifferenziert nutzbar sind.

Erfahrungstipp: Texte und Materialien in leichter Sprache lassen sich z. B. unter www.nachrichtenleicht.de sowie auf der Homepage der bpb unter „einfach Politik“ finden.

Phase 4: Was haben wir entdeckt?

Zum Ende der Veranstaltung werden die Ergebnisse, die die Teilnehmenden in der vorhergehenden Phase des Entdeckens festgehalten haben, im Plenum vorgestellt. Um das Projekt nachhaltig zu gestalten, kann im Nachgang der Veranstaltung die Europakarte, die im Seminar bearbeitet wurde, mithilfe eines Padlets ins Digitale übersetzt werden. Der (geschützte) Link wird den Teilnehmenden zugesendet und führt zu der digitalen Europakarte, die mit Markierungen versehen ist. Klickt man z. B. auf die Markierung in Großbritannien, werden die Audiodateien und Videofiles der Teilnehmenden zum Thema Brexit abgerufen.

Erkenntnisse aus den durchgeführten Seminaren

Für zukünftige Veranstaltungen ziehen wir folgendes Fazit in Form von drei Kernerkenntnissen:

Lebensweltbezug

Auch komplexe Themen können in Formaten der politischen Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten selbstverständlich sinnvoll behandelt werden. Als unterstützend erscheint uns dabei vor allem eine starke Bildsprache, die Nutzung barrierearmer Hilfsmittel, das Einplanen von ausreichend Pausen sowie genügend Zeit für eine kleinschrittige Beschäftigung mit den Themen. Vor allem aber sollte immer ein Bezug zur Erfahrungswelt der Teilnehmenden hergestellt werden. Beispielsweise haben wir in der Durchführung von Europa-Entdecker*innen die EU von Beginn an mit einer klassischen Wohngemeinschaft verglichen, die klein beginnt und dann wächst. In dieser Gemeinschaft gibt es Regeln für das Zusammenleben, z. B. Regeln zu Finanzen (Was wird wofür ausgegeben?), eine Hausordnung (Wer ist für was zuständig?), oder Regeln zum Eintritt in oder Austritt aus der Gemeinschaft (Wie kann man Mitglied der WG werden oder diese wieder verlassen?). Das Szenario der Wohngemeinschaft ist den Teilnehmenden in den meisten Fällen gut vertraut und macht die Abstraktion hin zu einem „Grundverständnis EU“ deutlich einfacher.

Auch komplexe Themen können in Formaten der politischen Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten selbstverständlich sinnvoll behandelt werden.

Authentische Personen und Lernorte

Besonders eindrücklich war für uns die Befragungsrunde der Politiker*innen zum Abschluss von Ich bin Politik!, denn auf die Teilnehmenden hatte sie einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer eigenen Selbstwirksamkeit. Aus unseren Eindrücken leiten wir vor allem ab, dass der Austausch den Teilnehmenden das Gefühl gab, durchaus gehört zu werden und Wirkung entfalten zu können. Außerdem, so scheint es uns, fand ein echter Perspektivwechsel für alle Beteiligten statt. So konnten die Teilnehmenden von den eingeladenen Politiker*innen als kompetente Expert*innen in eigener Sache wahrgenommen werden, die in einigen Bereichen besser informiert waren als die Gäste selbst. Hervorzuheben ist außerdem die Rolle des Lernortes 2019: Während wir die Befragung der Politiker*innen 2018 im WBZ in Ingelheim durchgeführt hatten, gelang uns dies ein Jahr später im rheinland-pfälzischen Landtag. Neben der Möglichkeit, Politiker*innen des Landtags zu interviewen, konnten sich die Teilnehmenden im Plenarsaal unter anderem selbst einmal an das Rednerpult stellen und sprechen. Diese Erfahrung an einem authentischen Lernort war für die Teilnehmenden und uns ein besonderes Erlebnis.

Zusammenarbeit

Politischen Bildner*innen, die Projekte für Menschen mit Lernschwierigkeiten ausarbeiten möchten, fehlt es oft an Konzepten zur Orientierung. Uns ging es ganz genauso. Deshalb haben wir uns an Kooperationspartner*innen gewendet, die schon lange mit Menschen mit Lernschwierigkeiten zusammenarbeiten. Auch der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Teilnehmenden selbst, z. B. in Feedback- oder Planungsrunden, ist eine wertvolle Rückmeldung darüber, was in didaktischer Hinsicht mehr und was weniger Sinn ergibt. Wir lernen hier von Mal zu Mal dazu.

Zur Autorin/zum Autor

Ramona Kemper ist Bildungsreferentin an der Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung im Weiterbildungszentrum Ingelheim. Während ihres Studiums an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz legte sie einen Schwerpunkt auf die Didaktik der politischen Bildung. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören außerdem die Themen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Inklusion. Dabei setzt sie sich u. a. kritisch mit Exklusionsmechanismen auseinander – vor allem jenen, die von politischer Bildung selbst ausgehen.
r.kemper@wbz-ingelheim.de
Thomas Landini, Jahrgang 1963, studierte in Darmstadt Kommunikationsdesign, bevor er sich mit einem Partner 1997 selbstständig machte und eine Werbeagentur gründete. 2009 kam das erste seiner zwei Kinder zur Welt und brachte ein Chromosom extra mit. Dies veränderte vieles und eröffnete neue Horizonte. Seit nunmehr 13 Jahren arbeitet er im Bereich der Inklusion, gibt Workshops und Seminare und hat sich auf das Gebiet der (Weiter-)Bildung von Menschen mit Lernschwierigkeiten spezialisiert. Seit 2018 ist er Referent der landesweiten Service- und Beratungsstelle „Inklusion in der Weiterbildung“ Rheinland-Pfalz. Im Weiterbildungszentrum Ingelheim arbeitet er mit der Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung in diversen Projekten im Bereich der inklusiven politischen Bildung.
t.landini@wbz-ingelheim.de

Literatur

Babilon, Rebecca (2018): Inklusive Erwachsenenbildung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Eine qualitative Studie in England. Dissertation. Universität Koblenz-Landau. Erziehungswissenschaft
Boger, Mai-Anh (2015): Das Trilemma der Depathologisierung. In: Schmechel, Cora/Dion, Fabian/Dudek, Kevin/Roßmöller, Mäks (Hrsg.): Gegen Diagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie. Münster: edition assemblage, S. 268–288
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 29. Januar 2019 – 2 BvC 62/14 –, Rn. 1-142; www.bverfg.de/e/cs20190129_2bvc006214.html (Zugriff: 23.06.2022)
Deutscher Bundestag (2019): Bundestag stimmt für Einführung eines inklusiven Wahlrechts; www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw11-de-teilhabe-wahlrecht-595320 (Zugriff: 08.06.2022)
Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfgang/Zurstrassen, Bettina (2015): Einleitung: Didaktik der inklusiven politischen Bildung. In: Dies. (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn: bpb, S. 9–16
Dönges, Christoph/Köhler, Jan Markus (2015): Zielgruppenorientierung oder Inklusion in der politischen Bildung – Dilemma oder Scheingegensatz? In: Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfgang/Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn: bpb, S. 87–98
Friedrich-Ebert-Stiftung (2017): Abbildungen zum E-Paper Politische Bildung in der Schule – ein Statusbericht; http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/14009/polbild_als_unterrichtsfach_gesamt.pdf (Zugriff: 13.06.2022)
Hufer, Klaus-Peter (2015): Politische Jugend- und Erwachsenenbildung – auch für Menschen mit Teilnahmeeinschränkung? In: Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfgang/Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn: bpb, S. 243–255
Kronauer, Martin (2015): Politische Bildung und Inklusive Gesellschaft. In: Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfgang/Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn: bpb, S. 18–29
Lüders, Christian (2014): „Irgendeinen Begriff braucht es ja …“ Das Ringen um Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Soziale Passagen (6), S. 21–53
Wansing, Gudrun (2013): Der Inklusionsbegriff zwischen normativer Programmatik und kritischer Perspektive. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit (3), S. 16–27