Außerschulische Bildung 3/2020

Politische Bildung in Transformationsregionen – Reflexionsräume eröffnen

Planungen der Bundeszentrale für politische Bildung für von Strukturwandel betroffene Regionen

Verstärkt ist in den vergangenen Jahren zu beobachten, wie sich gesellschaftliche Interessen ausdifferenziert haben. Aufsuchende politische Bildung kann dabei dazu beitragen, dass mit lokalen Akteuren lebensnah Konzepte erarbeitet werden, die den Strukturwandel begleiten. Der vorliegende Beitrag greift daher auf, warum von Strukturwandel betroffene Regionen in besonderem Maße einer begleitenden politischen Bildung bedürfen und welche Rolle die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb hierbei spielen kann. von Thomas Krüger

Verstärkt ist in den vergangenen Jahren zu beobachten, wie sich Interessen in der Gesellschaft ausdifferenziert haben. Um den Bedarfen gerecht zu werden, bedeutet dies für die politische Bildung, dass Konzepte einer teilhabeorientierten Aktivierung entwickelt werden („aufsuchende politische Bildung“), um mit den Menschen in von Strukturwandel betroffenen Räumen Strategien zu entwickeln, die zu einer Bewältigung der Prozesse beitragen und zugleich Vertrauen in die freiheitliche Demokratie entwickeln. Dies möchte die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb unterstützen und in Ostdeutschland eine dritte Liegenschaft eröffnen, in welcher bundesweite Fragen des Wandlungsprozesses in durch Kohleausstieg von Strukturwandel betroffenen Regionen diskutiert werden sollen. Gleichzeitig können Gegenden in ehemaligen Industrielandschaften, die zu Dienstleistungsregionen transformiert wurden, angesprochen werden. Deutlich wird die Notwendigkeit sich diesen Fragen anzunehmen, wenn eine 2018 durchgeführte Studie der Universität St. Gallen berücksichtigt wird, nach welcher sich eine Mehrheit in Deutschland für den Kohleausstieg ausspricht. Die Autor*innen der Studie schlüsselten ihre Befragung auch nach Braunkohle-Revieren auf und befragten Menschen, die im Rheinland oder der Lausitz leben. Während im Rheinland – wo das größte Braunkohle-Revier in Deutschland angesiedelt ist – eine Mehrheit sich für den Kohleausstieg bis 2030 aussprach, befürworteten in der Lausitz 2018 nur 43 % ein Ausstiegsgesetz (vgl. Rinscheid/Wüstenhagen 2019). Zwischenzeitlich haben die Debatten zwar die Haltung in der Lausitz leicht verändert, jedoch wird noch immer gefordert, das von der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ verabredete Ausstiegsdatum im Jahr 2038 beizubehalten.

Eine Gruppe um den Industriesoziologen Klaus Dörre hat in einer 2019 veröffentlichen Studie ähnliche Ergebnisse präsentiert (vgl. Bose/Dörre et al. 2019). Demnach könne in der Lausitz schon jetzt erkannt werden, dass die Auseinandersetzung um die Braunkohle eine Blaupause sein wird, wie gesellschaftliche Konflikte künftig verlaufen werden. Die Debatte um den Fortbestand der Kraftwerke könnte ein „exemplarischer Transformationskonflikt“ sein, in welchem die gegensätzlichen Pole aufeinanderprallen (Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019, S. 6). Für die Menschen, die von den Arbeitsplätzen abhängig sind, bedeutet „abgehängt“ sein nicht nur ein materielles Elend. Dahinter stehen auch ein verletzter Produzentenstolz sowie ein Gefühl mangelnden Respekts vor dem „guten Leben“.

Strukturwandel als Herausforderung

In zahlreichen, von Strukturwandel betroffenen Gebieten existieren gesellschaftliche und politische Säulen, die die Region tragen. Im Ruhrgebiet haben in den vergangenen Jahrzehnten die ökonomischen Wandlungsprozesse die Region über einen sehr langen Zeitraum beschäftigt. Die Kohle war der Indikator, der die Industrie angetrieben hat und gleichzeitig dazu beitrug, dass durch das Zusammenwirken verschiedenster Kulturen Wohlstand erzeugt wurde. In einigen Städten fand durch strukturelle Maßnahmen ein wirtschaftlicher Aufholprozess statt, sodass durch eine nachhaltige Strategie der ökologischen Umgestaltung und integrierten Stadtentwicklung Universitäten zu Treibern der Stadtentwicklung wurden, somit der Wandel zur Wissensregion mit zahlreichen Forschungseinrichtungen gelang (vgl. Bogumil/Heinze 2019, S. 39). Dennoch ist in Teilen des Ruhrgebiets (Gelsenkirchen, Duisburg) die Erwerbslosigkeit und Armut höher als in Gesamt-NRW. Durch den Verlust des einenden Elements der geteilten Arbeits- und Lebenswelt sind die trennenden Elemente der kulturellen Heterogenität in den Vordergrund gesellschaftlicher Wahrnehmung gerückt. Zwar schaffte es die Politik, soziale Konflikte und extreme Armut nach dem Niedergang von Kohle und Stahl zu vermeiden, wirtschaftliche und soziale Grundlagen für spätere Generationen konnten jedoch nicht gesichert werden (vgl. Dinter 2019, S. 34). Auch sind im Ruhrgebiet gesellschaftliche Segregationseffekte erkennbar: Einst heterogene Stadtteile entmischen sich über die Zeit. Gerade im Ruhrgebiet leben überdurchschnittlich viele Menschen in Stadtteilen, in der ethnische und soziale Segregation kumuliert auftritt. Daraus resultiert eine soziale Fragmentierung, die zu sozialer Exklusion und zu verstärktem Rückzugsverhalten führt.

Transformationsregionen brauchen aufsuchende politische Bildung mit kreativen Formaten und in digitalen Welten. Foto: Silke Neumann

Ähnliches ist in der Lausitz zu erkennen: Hier speiste sich der Stolz sowie die regionale Identität lange aus dem Bergbau (vgl. Pollmer 2020, S. 4). Der Wegfall von Braunkohle und großer Industrien rief enorme demografische Wirkungen hervor und nährte zudem eine Erzählung vom Abstieg, die den politischen und gesellschaftlichen Raum vergifteten. Während populistische Parteien, die versuchen, die „Verlierer“ des Strukturwandels auf ihre Seite zu ziehen, die Verhältnisse radikal schützen möchten, möchten die anderen Parteien den Veränderungsdruck auf die Region anerkennen, um schrittweise Ideen der Anpassung zu entwickeln. Auch in der Lausitz wird es mit dem Ausstieg aus der Kohle zu Verschiebungen im institutionellen und kulturellen Gefüge kommen. Zu Hochzeiten setzte die Kohle in der DDR mit 80.000 Beschäftigten über mehrere Generationen den ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmen (vgl. Gürtler/Luh/Staemmler 2020, S. 32). Die Enttäuschungen aus dem „ersten“ Strukturwandel nach der Wiedervereinigung, als im Zeitraum zwischen 1994 und 2009 in der Industrie etwa 850.000 Arbeitsplätze (vgl. Lutz 2018, S. 483) verschwanden (Rückgang um 83 %) und in Folge eine massenhafte Abwanderung jüngerer und qualifizierter Bewerber*innen stattfand, ist allgegenwärtig. Seit 1990 haben 3,7 Millionen Menschen Ostdeutschland verlassen, das Durchschnittsalter stieg von 37,9 auf 46,3 Jahre (vgl. Pollmer 2020, S. 5). Das Vermögen, der Lohn oder das Steueraufkommen liegen deutlich unter dem Niveau des Westens, freiwerdende Arbeitsplätze können häufig nicht nachbesetzt werden. Transformation in Ostdeutschland setzt daher nicht erst mit der Zechenschließung im 21. Jahrhundert ein, vielmehr hat der Prozess schon 1989 begonnen, weswegen sich die neuen Bundesländer in ihrer Gesamtheit als Strukturwandelregion begreifen lassen.

Probleme erfordern individuelle Lösungen

So stehen die Enttäuschungen von damals und die daraus resultierende Verdrängung an den sozialen und politischen Rand heute als Hemmnisse vor denjenigen Akteuren, die den Strukturwandel organisieren müssen. Zudem sind jene mit zwei Dynamiken konfrontiert: einerseits mit der Gleichzeitigkeit, in welcher viele Prozesse ablaufen, andererseits mit der Strukturunsicherheit über das ökonomische und ökologische Fortbestehen. Daher sorgt der Kohleausstieg dafür, dass ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt über den Umgang mit gesellschaftlichem Wandel nicht zur Ruhe kommen kann. Hinzu kommt die politische Dimension: Ein vorhandenes rechtsaffines Potenzial das – wie Dörre et al. in seiner Studie schreiben – in der Belegschaft der LEAG (Lausitz Energie Verwaltung) existiert, kann von der AfD angesprochen und radikalisiert werden (vgl. Bose/Dörre et al. 2019, S. 106). Entsteht durch den Strukturwandel ein Gefühl der Verlassenheit von der nationalen Politik und eines der Ausgrenzung von großen Teilen der Gesellschaft, kann dies zu Gedanken wie „fremd im eigenen Land“ führen. Möglicherweise entsteht dann an der Wahlurne eine Wagenburgmentalität, um der Furcht vor Statusverlust entgegenzuwirken. Die Verunsicherung vor einem früheren Ausstieg als 2038 ist ebenso vorhanden wie die Unsicherheit, ob die Idee eines systematischen Strukturwandels und die Umwandlung in eine Modellregion gelingen kann.

Durch den Verlust des einenden Elements der geteilten Arbeits- und Lebenswelt sind die trennenden Elemente der kulturellen Heterogenität in den Vordergrund gesellschaftlicher Wahrnehmung gerückt.

Häufig folgen in strukturschwachen, ländlich gelegenen Räumen auf den Verlust von Arbeitsplätzen ökonomische Probleme: individueller Wegfall von Einkommen, Kaufkraftverlust für Kundschaft lokaler Unternehmen, Verödung. Die spürbaren Veränderungen in der individuellen Lebensführung betreffen zugleich die Sozial- und Altersstruktur in diesen Gebieten. Junge Menschen ziehen weg, zurück bleiben ältere Personen, die sich in einer individuellen Ohnmacht als „Opfer“ des Strukturwandels fühlen und sich nicht selten in ihrer kollektiven Identität verletzt sehen. Dadurch entstehen Deprivationsgefühle, der Wert der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ wird angegriffen. Zentrales Kennzeichen dürfte jedoch eine grundsätzliche Ungewissheit sein: Niemand weiß, wie es mittel- und langfristig weitergehen wird. Zeitgleich stellt sich den Personen vor Ort die Situation als Kluft zwischen konkreten lokalen Bedürfnissen und tatsächlicher Wahrnehmung durch die Politik dar.

Der Wegfall großer Industrien nährt eine Erzählung vom Abstieg, die den politischen und gesellschaftlichen Raum vergifteten. Foto: Silke Neumann

Daraus können gesellschaftliche Spannungen entstehen, die aber nicht (!) zu Unmutsbekundungen durch Wahl extremistischer Parteien oder zu politischen Radikalisierungsprozessen führen müssen. Die Wahrscheinlichkeit für eine Radikalisierung des Diskurses erhöht sich, wenn extremistische Akteure vor Ort aktiv sind, die das politische Mikroklima vergiftet haben und über Ansätze politischer Deutungshoheit verfügen. Kommt zu der Strukturschwäche die fehlende Wirksamkeit öffentlicher Institutionen hinzu, lässt dies das Vertrauen in Demokratie (und ihrer Repräsentanten) erodieren. Die Chance des Strukturwandels besteht jedoch auch darin, das negative Image als „Schmuddelecke“ des Landes loszuwerden. Heute sind die Region Bitterfeld oder Teile des Ruhrgebiets attraktive Landstriche, die früher nie jemand bereisen wollte.

Bürger*innen in den Prozess involvieren

Aus den genannten Gründen benötigen Transformationsregionen politische Weitsicht und Planung. Für die Gebiete muss ein „neues Geschäftsmodell“ entwickelt werden, um mittelfristig soziale Abwärtsmobilität aufzuhalten und parallel Bahnen sozialer Aufwärtsmobilität zu generieren. Dafür müssen überzeugende Konzepte präsentiert werden, insbesondere was Wirtschaftspolitik, Kultur und Bildung betrifft. Hierbei besteht die Herausforderung, Investoren langfristig zu binden, eine nachhaltige Wirtschaftskette aufzubauen sowie eine Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, insbesondere bei medizinischen Einrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten sowie einem akzeptablen ÖPNV.

Während populistische Parteien, die versuchen, die „Verlierer“ des Strukturwandels auf ihre Seite zu ziehen, die Verhältnisse radikal schützen möchten, möchten die anderen Parteien den Veränderungsdruck auf die Region anerkennen, um schrittweise Ideen der Anpassung zu entwickeln.

Zudem ist eine Politik sozialer Kohäsion erforderlich. Denn ländlich-strukturschwache Räume sind – genau wie urbane Räume – auch Sozialräume. Sie liefern den Kontext alltäglicher Lebensbewältigung und schaffen Interaktionsraum für gesellschaftliche Verflechtungen. Wenn in ökonomisch und demografisch prekären Regionen Vergesellschaftungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, weil Infrastrukturen rück- und Arbeitsplätze abgebaut werden oder sich zivilgesellschaftliche Träger zurückziehen, müssen Formen entwickelt werden, die dazu beitragen, dass trotz widriger (makro-)struktureller Verhältnisse Vergesellschaftung vor Ort möglich ist. Weiterhin müssen Formate dazu beitragen, dass neue soziale Infrastrukturen für gesellschaftlichen Zusammenhalt entstehen. Die besondere Herausforderung besteht darin, einen Rahmen zu implementieren, in dem die Bedürfnisse, aber auch die herausgeforderten Mentalitäten der in der Fläche siedelnden Menschen so aufgegriffen werden, dass Reflexionsräume für Transformationsprozesse entstehen. Hier sollten sich die Personen als handelnde Akteure begreifen, mögliche Gestaltungspfade reflektieren und gemeinsam eine Perspektive für die Region entwickeln. Es geht in diesem Sinne um Kompetenzen, Selbstwirksamkeit und Diskursvielfalt.

Von essentieller Bedeutung ist daher, dass Bürger*innen Mitgestaltungsmöglichkeiten eröffnet werden, in denen ihr lokales Wissen berücksichtigt wird. Daher sollen die Entscheidungen über Projekte und Förderperioden vor Ort getroffen werden. Wenn dies nicht geschieht, drücken Bürger*innen ihr Missfallen bei Wahlen aus. Transformation kann aber auch ein Anlass sein, gemeinsam darüber zu sprechen, in welcher Zukunft die Einwohner*innen ökonomisch, politisch oder ökologisch leben möchten. Hier sollten sie direkt einbezogen werden, um den Strukturwandel bürgernah und im Dialog zu gestalten. Dennoch muss zugestanden werden, dass es Transformationsregionen gibt, wo wirtschafts- und gesellschaftspolitisch keine günstige Perspektive besteht. Hier benötigt es Ehrlichkeit, um einer Entfremdung vom politischen System, die in Radikalisierungsprozessen münden kann, vorzubeugen.

Aufgabe der politischen Bildung in Transformationsregionen

Politische Bildung kann keine One-Size-Fits-All-Ansätze liefern. Es benötigt maßgeschneiderte Angebote für einzelne Transformationsregionen, die sich mit den Begebenheiten vor Ort intensiv auseinandersetzen. Auftrag politischer Bildung in strukturschwachen Regionen ist es zum einen, dem Gefühl entgegenzuwirken, dass sich die Politik zurückgezogen hat. Zum anderen ist es der Auftrag politischer Bildung, Krisengewinnlern zu widersprechen, die mit Angstdiskursen und xenophoben Narrativen agieren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Transformationsregionen brauchen aufsuchende politische Bildung mit kreativen Formaten und in digitalen Welten. Wie diese gestaltet werden, muss teilhabeorientiert und lebensnah mit lokalen Akteuren erarbeitet werden, um dem tatsächlichen Bedarf zu ermitteln. Neben den Top-down-Entscheidungen der Politik könnte die politische Bildung vor allem in Bottom-up-Verfahren einen aktivierenden und auf Akzeptanz abstellenden Beitrag zum Strukturwandel leisten. So verstanden zielt politische Bildung auf die Herstellung einer resilienten Öffentlichkeit, die das Heft demokratischen Handelns in die Hand nimmt. Brückenpersonen, die Träger und Einrichtungen politischer Bildung mit den Zielgruppen verbinden, haben in strukturschwachen Räumen eine Schlüsselfunktion für die Bildung von Urteilskraft und die Befähigung zum Handeln. Politische Bildung unterstützt Multiplikator*innen der Demokratie wie kommunale Mandatsträger*innen durch Coaching und Wissenstransfer und entwickelt mit lokalen Gemeinschaften sowohl die Infrastrukturen öffentlicher Daseinsvorsorge als auch nachhaltige Zukunftsprojekte.

Der Stolz sowie die regionale Identität der Lausitz speiste sich lange aus dem Bergbau. Foto: Silke Neumann

Die Spanne, mit der politische Bildungsformate eingebracht werden können, reicht dabei von moderierenden Konversionsverfahren über Formate, die den Wandlungsprozess kritisch reflektieren, bis hin zu partizipativen Verfahren zur Neuerfindung betroffener Regionen. Ein neuer Standort der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb wird sich diesen speziellen Aspekten widmen, um der Entstehung von durch Unsicherheit ausgelösten Ängsten und hieraus resultierenden populistischen Lösungen vorzubeugen. Die politische Bildung könnte von Strukturwandel betroffene Bevölkerungsteile gezielt in Transformationsprozesse wie z. B. Wirtschafts- und Kulturansiedlungen einbinden und so einen erheblichen Beitrag zu einer Akzeptanz des Strukturwandels leisten. Gleichzeitig können an einem neuen Standort Entwicklungspotenziale der vom Strukturwandel betroffenen Regionen unter Einbeziehung der Bevölkerung vor Ort aufgezeigt werden. Perspektiven, Erzählungen und Biografien fließen in Angebote der politischen Bildung ein, um damit zu Formen der politischen Selbstermächtigung in Form von Teilhabe an politischen Prozessen beizutragen. Gerade dort, wo keine nennenswerten Infrastrukturen oder großen zivilgesellschaftlichen Träger vorhanden sind, fühlen sich Menschen oftmals als Opfer „großer anonymer Vorgänge“ und eben nicht mehr als aktiv handelnde Gestalter*innen. Politische Bildung kann hier zu gelingender Vergesellschaftung vor Ort beitragen. Daran angeschlossen gilt es, mit Unterstützung der politischen Bildung einem Phänomen entgegenzuwirken, dass der Soziologe Wilhelm Heitmeyer mit dem Begriff der „leeren Institutionen“ (Heitmeyer 1999) bezeichnet hat. Der Begriff meint, dass Demokratie zwar als Rechts- und Verfassungssystem existiert, jedoch nicht als lebendige politische Kultur. Landkreisreformen haben die Herausforderung vergrößert, da kommunalpolitische Zusammenhänge und Vertretungsstrukturen beschnitten und auf eine andere Ebene gehoben wurden. Dazu fehlt es den Institutionen dem Sozialwissenschaftler Peter Reif-Spirek zufolge insbesondere in den neuen Bundesländern an einem Unterbau an sozialen und kulturellen Traditionen (vgl. Reif-Spirek 2000, S. 28). Politische Bildung sollte versuchen, mit geeigneten Formaten Vor-Ort-Akteure zu befähigen dieser „Leere“ mit demokratischem Engagement entgegenzuwirken. Hierbei gilt es die Zivilgesellschaft zu stärken, Teilhabeangebote zu machen und den gesellschaftlichen Diskurs zu führen.

Transformationsleistungen erfordern nicht nur materielles Investment, sondern eine Investition in die herausgeforderten Mentalitäten.

Klar ist auch, dass hierfür ein erweiterter Begriff der Infrastrukturförderung benötigt wird. Transformationsregionen müssen an die Ballungsräume angeschlossen werden, wofür bessere Straßen oder mehr Schienen benötigt werden. Aber Infrastruktur soll nicht nur die Körper bewegen, sondern auch die Köpfe: Wenn wir Stadt und Land auf einem Level halten möchten, dann dürfen wir nicht nur in den Nahverkehr investieren, sondern genauso in Kultur und Bildung. Das Dorf wird nicht nur durch schnelle Wege in die nächste Stadt attraktiv, sondern auch durch eigenständige Angebote vor Ort. Es geht den Bewohner*innen von Transformationsregionen nicht nur um Jobs und Auskommen, sondern besonders um langjährig eingeübte Traditionen, Einstellungen und Gefühle, die durch den Wandel infrage gestellt beziehungsweise herausgefordert werden. Politische und kulturelle Bildung können hier ihre Stärken einbringen und dabei helfen, diese Aspekte von Transformation zu bewältigen. Kurzum: Transformationsleistungen erfordern nicht nur materielles Investment, sondern eine Investition in die herausgeforderten Mentalitäten.

Zum Autor

Thomas Krüger ist seit Juli 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Seit 1995 ist er Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz und Mitglied des Kuratoriums für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, anschließend von 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.
info@bpb.de
Foto: Martin Scherag

Literatur

Bogumil, Jörg/Heinze, Rolf G. (2019): Von der Industrieregion zur Wissensregion. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ zum Thema Ruhrgebiet, Ausgabe 1–3/2019, S. 39–46
Bose, Sophie/Dörre, Klaus/Köster, Jakob/Lütten, John/Dörre, Nelson/Szauer, Armin (2019): Braunkohleausstieg im Lausitzer Revier. Sichtweisen von Beschäftigten. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Nach der Kohle – Alternativen für einen Strukturwandel in der Lausitz. Berlin: RLS, S. 88–112
Dinter, Jan (2019): Politischer Strukturwandel? Populismus und soziale Gegensätze. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ zum Thema Ruhrgebiet, Ausgabe 1–3/2019, S. 31–38
Gürtler, Konrad/Luh, Victoria/Staemmler, Johannes (2020): Strukturwandel als Gelegenheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ zum Thema Lausitz, Ausgabe 6–7/2020, S. 32–39
Heitmeyer, Wilhelm (1999): Sozialräumliche Machtversuche des ostdeutschen Rechtsextremismus. In: Kalb, Peter/Sitte, Katrin/Petry, Christian (Hrsg.): Rechtsextremistische Jugendliche – was tun? Weinheim und Basel: Beltz, S. 47–79
Lutz, Raphael (2018): Jenseits von Kohle und Stahl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Pollmer, Cornelius (2020): Endspiel in der Lausitz? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ zum Thema Lausitz, Ausgabe 6–7/2020, S. 4–7
Reif-Spirek, Peter (2000): Der Rechtsextremismus und das Sommerloch. In: Journal der Jugendkulturen No. 2, S. 27–36
Rinscheid, Adrian/Wüstenhagen, Rolf (2019): Germany’s decision to phase out coal by 2038 lags behind citizens‘ timing preferences. London: Nature Energy
Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.) (2019): Nach der Kohle – Alternativen für einen Strukturwandel in der Lausitz. Berlin: RLS