Eine europäische Perspektive
Eine der Pionierinnen der Erforschung der digitalen Transformation, Shoshana Zuboff, beschrieb 1988 am Beispiel einer Papierfabrik die Irritationen, die die digitale Transformation hervorrief. Statt klassischer Verarbeitung und Handarbeit wurde nun die „Aufgabenbeziehung durch ein Informationssystem vermittelt“ (Zuboff 1988, S. 62). Infolgedessen zeigten die Arbeiter*innen „unzählige Male eine spontane emotionale Reaktion – im Gefühl des Kontrollverlusts, der Verletzlichkeit und der Frustration“. Viele waren besorgt, wie sich ihre handwerklichen Fähigkeiten in eine veränderte Art der Papierherstellung einfügen können. Eine Gruppe von Arbeiter*innen baute jedoch ihr Wissen aus, lernte neue Aspekte der Papierherstellung kennen. Andere hingegen „machten sich zu einem Anhängsel des Systems und führten mechanisch die Anweisungen des Computers aus“ (ebd., S. 68). Eine entscheidende Kompetenz, die der ersten Gruppe half, war, ihr Interesse zu erforschen, zu versuchen, sowie die neuen Möglichkeiten konstruktiv zu reflektieren (vgl. ebd., S. 70). Eine Studie des deutschen Ministeriums für Arbeit und Soziales kommt heute zu einem ähnlichen Schluss: „29 Prozent der Beschäftigten erfahren eine körperliche Entlastung“ durch die Digitalisierung ihrer Arbeitswelt. Gleichzeitig folgert der Monitor für Digitalisierung am Arbeitsplatz: „15 Prozent der Beschäftigten empfinden sinkende Anforderungen an ihre Fähigkeiten.“ (BMAS 2016, S. 13 f.) Dieser Artikel ist entstanden im Rahmen des europäischen Projekts DIGIT-AL: Digital Transformation and Adult Learning for Active Citizenship des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten; https://dttools.eu.
Die Bildungssysteme sollten diese beiden Gruppen berücksichtigen. Diejenigen mit dieser entscheidenden transformativen Kompetenz müssen bestärkt werden und gleichzeitig darf die Gesellschaft die anderen nicht zurücklassen. Bildung muss verstehen lernen, wie sie in diesem Transformationsprozess Arbeitnehmer*innen helfen kann und welche Bedingungen diese in die Lage versetzen, eine neue Lernreise zu beginnen. Insbesondere das Verständnis von Lernen als lebenslanger, kontinuierlicher, reflexiver und produktiver Prozess ist dafür eine solide Grundlage: Wenn Arbeitnehmer*innen befähigt werden, Erfahrungen aus unterschiedlichen Situationen, sozialen Rollen oder Lebensphasen zu verknüpfen, kann dies helfen, in unbekannten Situationen Chancen zu sehen oder die aktuelle Situation als Teil einer Transformation zu verstehen, nicht als einen Endzustand.
Die europäischen Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, entwickelt 2006 und überarbeitet 2018, drücken ein solches Bildungsverständnis aus. „Schlüsselkompetenzen sind diejenigen Kompetenzen, die alle Menschen für ihre persönliche Entfaltung und Entwicklung, Vermittelbarkeit, soziale Inklusion, eine nachhaltige Lebensweise, ein erfolgreiches Leben in friedlichen Gesellschaften, eine gesundheitsbewusste Lebensgestaltung und aktive Bürgerschaft benötigen. Sie werden im Sinne des lebenslangen Lernens von Kindesbeinen an während des gesamten Erwachsenenlebens durch formales, non-formales und informelles Lernen in allen Umgebungen entwickelt: in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und anderen Gemeinschaften.“ (Europäische Kommission 2019b)
Die allgemeine Strategie der EU zur Stärkung der Schlüsselkompetenzen scheint kohärent mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zu sein. Das EU-Onlinetool Skills-OVATE scannt Stellenanzeigen. Es zeigt, dass zunehmend komplexere Fähigkeiten für die breite Vielfalt von Berufsbildern in Europa nachgefragt werden. Die Top Ten im Januar 2021 sind (in hierarchischer Reihenfolge; vgl. SKILLS-OVATE 2021):
- adapt to change
- work in teams
- English
- use a computer
- assist customers
- use microsoft office
- teamwork principles
- create solutions to problems
- customer service
- think proactively
Lernen-zu-lernen-Kompetenz
Ein an Schlüsselkompetenzen orientierter lebenslanger Lernansatz setzt voraus, dass Lerner*innen sich selbst als Subjekt betrachten, als die Brücke, über die verschiedene Lernerfahrungen miteinander verknüpft werden. Hier setzt der neue Kompetenzrahmen LifEComp an, das „European Framework for the Personal, Social & Learning to Learn Key Competence” (Sala et al. 2020). „Die Entwicklung der Persönlichen, Sozialen und Lernen-zu-lernen-Kompetenz ist entscheidend. Sie hat das Potenzial, Inklusion und Resilienz gegen Unsicherheit und Wandel zu stärken, durch sozio-emotionale Fähigkeiten, die oft als ebenso wichtig angesehen werden wie kognitive und metakognitive Fähigkeiten für akademische Leistungen, Karriere, Gesundheit und Wohlbefinden.“ (Caena 2019, S. 34) Diese Kompetenz beschreibt quasi eine – für ein modernes kompetenzbasiertes Bildungsverständnis mit höherem Anspruch – unabdingbare Grundlage. Insbesondere im Kontext der digitalen Transformation muss die Aneignung von Wissen unter eben diesen offenen Bedingungen erfolgen.
Digitale Kompetenz in der Transformation
Informations- und Kommunikationstechnik-Kompetenzen (IKT) werden von europäischen Entscheidungsträger*innen schon länger als Teil der Grundkompetenzen angesehen, was durch die Forschung gestützt wird: „Um mit der digitalen Entwicklung Schritt zu halten, reicht es nachweislich nicht aus, nur die digitalen Kompetenzen zu verbessern. Die Daten der ESJ-Erhebung zeigen, dass Erwachsene auf Arbeitsplätzen, die zumindest durchschnittliche IKT-Kompetenzen erfordern, außerdem ein hohes Maß an ergänzenden Kompetenzen benötigen, wie Grundkompetenzen (Lesen, Schreiben und Rechnen), Soft Skills (Planung und Organisation) und verhaltensbezogene Kompetenzen (Kommunikation und Teamarbeit). Arbeitsplätze, die ein hohes Niveau an IKT-Kompetenzen voraussetzen, verlangen von den Mitarbeitern neben umfassendem technischen Wissen auch die Fähigkeit, Probleme zu lösen, zu lernen, sich anzupassen und neue Methoden und Technologien anzuwenden.“ (Cedefop 2017, S. 4)
Ein an Schlüsselkompetenzen orientierter lebenslanger Lernansatz setzt voraus, dass Lerner*innen sich selbst als Subjekt betrachten, als die Brücke, über die verschiedene Lernerfahrungen miteinander verknüpft werden.
Ähnliche Überlegungen veranlassten die OECD, den Begriff „21st Century Skills“ in den Bildungsdebatten zur digitalen Transformation der Arbeit zu verwenden. Die grundlegenden Arbeiten der OECD an Schlüsselkompetenzen, die zu den Grundlagen der PISA-Studien führen, werden von der Organisation in ihrem Projekt Future of Education and Skills 2030 als „transformative Kompetenzen“ verschlagwortet (OECD 2019, S. 20). Wenn digitale Kompetenzen als Teil transformativer Kompetenz aufgefasst werden sollen, müssen wir eine zu enge Assoziation mit IT-Wissen überwinden und unbedingt vermeiden, sie in der Praxis wieder auf technische „Skills“ zu reduzieren. Im PISA-Programm wurde die Formulierung „Problemlösen in technologiereichen Umgebungen“ verwendet, was die „Nutzung digitaler Technologie, Kommunikationsinstrumente und -netzwerke, um Informationen zu bekommen und auszuwerten, Kommunikation mit anderen und praktische Aufgaben ausführen“ umfasst (PIAAC 2009, p. 7). Das Konzept der Medienkompetenz hat sich aus einer ähnlichen Perspektive weiterentwickelt und enthält ebenfalls viele Überschneidungen damit. Heute hängen Kommunikation und Zusammenleben in unserer Gesellschaft unter anderem von Vernetzung, Datafizierung und Plattformen ab. Deshalb müssen auch weitere, über Medienkompetenz hinausführende Aspekte einbezogen werden, wie Datenkompetenz (data literacy), die Fähigkeit, „Bedeutung aus Informationen abzuleiten, Daten nicht nur zu lesen, zu bearbeiten und zu analysieren, sondern auch mit ihnen zu argumentieren und zu verstehen, was Daten aussagen“ (OECD 2019, S. 53).
Die aus dem EU-Schlüsselkompetenz-Rahmen hier anknüpfende Kompetenz ist die Digitale Kompetenz, beschrieben im DigComp-Rahmen. Obwohl nicht primär für den Arbeitskontext entwickelt, werden derzeit Anstrengungen unternommen, DigComp im HR-Kontext einzubringen (Centeno et al. 2019, S. 10). Momentan plant die EU-Kommission die Überarbeitung des Rahmenwerks. In der Version 2.2 soll gemäß den Vorstellungen für den aktuell in Entwicklung befindlichen Aktionsplan für digitale Bildung (2021–2027) eine Aktualisierung „im Hinblick auf die Einbeziehung von KI-Kompetenzen und Datenkompetenz erfolgen“ (Europäische Kommission 2020b).
Aus der Perspektive der politischen Bildung fällt auf, dass demokratische Prinzipien und Rechte nicht explizit Erwähnung finden. Heißt z. B. KI-Kompetenz nicht auch, Technologie hinsichtlich ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Wirkung verstehen und kontrollieren zu können? Muss nicht jede*r etwas (mehr) KI-Kompetenz besitzen? Soll diese nur Programmierwissen enthalten? Auch der DigComp-Aspekt „Bedürfnisse und technische Lösungen identifizieren“ hebt nicht unbedingt auf die demokratische oder soziale Dimension dieser Bedürfnisse ab. Der „Schutz der Umwelt“ wird hauptsächlich von der Hardware her betrachtet. Europas Ambition ist, neben der autoritären Version der Transformation nach dem chinesischen Modell und der Silicon-Valley-Variante einen „europäischen Weg“ der Digitalisierung einzuschlagen (Technologie für die Menschen, mit einer fairen und wettbewerbsfähigen Digitalwirtschaft, für eine offene, demokratische und nachhaltige Gesellschaft) (Europäische Kommission 2020a). Diese Ziele könnten sich ebenfalls konsequenter auch in DigComp niederschlagen. Speziell die politische Bildung kann solche Leerstellen füllen.
Europäische Strategie: Employability
Analog zu den eingangs formulierten Überlegungen ist die Antwort der europäischen Politik auf strukturelle Arbeitslosigkeit die Betonung von Bildung und Training, um Arbeitnehmer*innen arbeitsmarktfähig zu machen und „Kompetenzlücken“ zu schließen. Natürlich wurde in den politischen Dokumenten der EU meist durchaus erwähnt, dass das Ziel von Bildung sei, dass Menschen ihr „volles Potenzial entfalten, aktiv an der Gesellschaft teilnehmen und ihre soziale und bürgerschaftliche Verantwortung wahrnehmen“ können (Europäischer Rat 2016). Der Geist und die Logik der Verlautbarungen zeichnete allerdings ein Bildungsverständnis, das sehr stark auf die Defizite abhebt (skill gap) und hier vor allem auf den beruflichen Kontext.
Das strategische Dokument Eine neue Kompetenzagenda für Europa beschreibt die Herausforderung: „Die schnelle digitale Transformation der Wirtschaft bedeutet, dass fast alle Arbeitsplätze heute ein gewisses Maß an digitalen Fähigkeiten erfordern, ebenso wie die Teilhabe an der Gesellschaft im Allgemeinen. Die kollaborative Wirtschaft verändert Geschäftsmodelle, eröffnet Chancen und neue Wege in die Arbeitswelt, andere Fähigkeiten erfordernd und Herausforderungen wie den Zugang zu Weiterbildungsmöglichkeiten mit sich bringend. Robotisierung und künstliche Intelligenz ersetzen Routinejobs, nicht nur in der Fabrikhalle, sondern auch im Büro.“ (Europäische Kommission 2016, S. 7) Die EU-Kommission fordert mehr arbeitsplatznahe Qualifizierung. Gleichzeitig werden bekannte Ungleichheiten nicht automatisch durch die digitale Transformation beseitigt. Der Zugang zu digitalen Möglichkeiten und die Gelegenheit, von ihnen zu profitieren, gestaltet sich für Geschlechter-, Alters- oder Lohngruppen deutlich unterschiedlich (vgl. Holler 2017). Es besteht etwa ein digitaler Gender Gap (vgl. Initiative D21 e. V. 2020) und Frauen mit hochwertigen IT-Kenntnissen erfahren weiterhin Benachteiligung (vgl. Tarín Quiros et al. 2018, p. 9). Speziell die politische Bildung kann dazu beitragen, dass die diversen und multiplen digitalen Lücken und Ausschlussmechanismen entdeckt, adressiert und verkleinert werden.
Proaktivität und (soziale) Innovation
Komplementär zum erwähnten DigComp 2.1 Rahmenwerk, soll auch EntreComp zur Stärkung der „unternehmerischen Kompetenz“ (entrepreneurship) erwähnt werden. Es fokussiert mehr auf den Arbeitskontext, obwohl der Begriff Entrepreneurship teilweise irreführend sein könnte, da der Rahmen nicht auf Unternehmer*innen, sondern auf die Arbeitnehmer*innen abhebt. „Entrepreneurship“ will eine allgemeine Kompetenz der proaktiven Bewältigung von Herausforderungen und zur Fähigkeit, Wert zu erzeugen, fördern, „von der Pflege der persönlichen Entwicklung, zur aktiven Partizipation in der Gesellschaft, zum (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt als Angestellter oder als Selbständiger und auch, um Unternehmungen (kulturell, sozial oder kommerziell) zu beginnen.“ (Bacigalupo et al. 2016)
EntreComp reflektiert Aspekte der Proaktivität und Fähigkeit zu sozialer Innovation, die auch in der aktiven politischen Bildung (active citizenship education) relevant sind. Zudem anerkennt es, dass die Schaffung von Wert für die Gesellschaft nicht allein oder gar vorrangig ökonomischer Natur ist. Der Kompetenzrahmen stößt somit in eine Lücke, die die Diskurse der politischen Bildung haben entstehen lassen – indem Proaktivität, Kreativität, Wirkungsorientierung als Bestandteile demokratischer Handlungskompetenz manchmal als selbstverständlich angenommen wurden, manchmal sogar als den Bildungsbegriff banalisierende Zweckorientierung beargwöhnt werden. In die Lücke sind oft andere gesprungen, die etwa „social entrepreneurship“ oder „soziale Innovation“ fördern, diese dabei aber verblüffend oft als eine Art unternehmerische Bildung für in Non-Profit-Bereichen Sozialisierte begreifen. In diesem Sinne ist das Rahmenwerk unabhängig davon, ob man den Begriff „entrepreneurship“ für angemessen hält, ein auch für die politische Bildung relevantes Konzept, gerade für die wenigen, die soziale Innovation von der Demokratie aus denken, oder mittels kulturellem oder gesellschaftspolitischem Engagements Wirkung und Wert erzeugen. Erwähnen muss man andererseits, dass dort, wo demokratische Kernbereiche berührt werden, EntreComp von Perspektiven politischer Bildung profitieren würde. Zum Beispiel enthält es eine Kategorie „ethisches und nachhaltiges Denken“, das „durch Ethik und Werte in Bezug auf Gender, Gleichheit, Fairness, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit unterstützt werden“ solle. Dabei muss es natürlich auch um demokratische Prinzipien und die Rechte der Einzelnen, sowie die Wertschätzung und Stärkung des Rechtsstaats gehen, also um Innovation im Kontext einer demokratischen Kultur.
Generell wollen solche Kompetenzrahmen wie LifeComp, DigComp oder EntreComp eine Quelle der Inspiration für innovative Lerndesigns und Curricula in verschiedenen Bildungsbereichen sein. Zudem tragen sie auch zur Qualitätsentwicklung von Bildungsangeboten bei. Ihre Indikatoren und Fähigkeitsniveaus können auch eine Grundlage für die (übertragbare und vergleichbare) Kompetenzbeschreibung und -anerkennung bilden.
Die mögliche Rolle der außerschulischen politischen Bildung
In diesem Zusammenhang ist auch die Position des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) erwähnenswert. Der EWSA ist ein beratendes Gremium des EU-Parlaments, des Rates und der Kommission, in dem Arbeitnehmer- und Arbeitgeberperspektiven paritätisch vertreten sind. In seiner Stellungnahme Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Gerechtigkeit – Wege zur Stärkung der EU im globalen Wettlauf um künftige Kompetenzen und Bildung bei gleichzeitiger Gewährleistung der sozialen Inklusion kommen die Experten zu dem Schluss: „Kontinuierliches Lernen bedeutet Lernen für die Arbeit, trägt aber auch zur persönlichen und beruflichen Entfaltung, zur sozialen Inklusion sowie zur aktiven Bürgerschaft bei.“ Zudem sei es als ein „Recht für jeden“ zu betrachten (EWSA 2019).
Aus der Sicht politischer Bildung werden Aspekte der politischen Bildung im europäischen Kontext oft nur mittelbar betrachtet.
Aus der Sicht politischer Bildung werden Aspekte der politischen Bildung im europäischen Kontext oft nur mittelbar betrachtet. Immerhin hob nach den Anschlägen in Paris die Paris-Deklaration der EU-Bildungsminister*innen vom 17. März 2015 Bürgerschaft und die Bedeutung von politischer Bildung hervor, was eine partielle semantische Neuorientierung anregte, aber noch lange kein geteiltes Verständnis von politischer Bildung unter den EU-Staaten schaffte. Heute wird anerkannt, dass eine friedliche, inklusive und diversitätsbewusste demokratische Kultur nicht allein über Integration der Bürger*innen in den Arbeitsmarkt erreicht wird. Es ist somit an der politischen Bildung, Weiterbildungspfade mitzugestalten. Sollte etwa die Erwerbsarbeit zunehmend weniger die Position eines Menschen in der Gesellschaft definieren, würde Selbstwirksamkeit anders erfahren werden müssen als durch die Ausfüllung eines Jobs. Sollen mehr Menschen erfolgreich mit gesellschaftlicher Vielfalt umgehen können, rückt Diversity von einer „soft skill“ in den Rang einer zentralen Kompetenz. Soll der „Europäische Weg“ Realität werden, müssen Bürger*innen ihn nachvollziehen und begleiten können. Die soziale Seite der bereits erwähnten „21st Century Skills“ zu entdecken und zu stärken ist zweifellos eine Stärke politischer Bildung, die zu mehr Qualität und Relevanz von Kompetenzmodellen beitrüge.
Die Empfehlung des Rates vom 19. Dezember 2016 für Weiterbildungspfade: Neue Chancen für Erwachsene der EU-Kommission beschreiben, wie sie sich „Upsksilling“ vorstellt (vgl. Europäischer Rat 2016):
- Erwachsenen Zugang zu Weiterbildungspfaden anbieten und vorrangige Zielgruppen in nationalen Kontexten identifizieren
- Angebot von Kompetenz-Assessments
- Maßgeschneiderte und flexible Lernangebote anbieten
- Anerkennung und Validierung von Kompetenzen
- Gewährleistung effektiver Kooperation und Partnerschaften
- Optimierung der Reichweite von Bildung in Richtung neuer Lernender
Diese Anliegen führen über das einzelne Unternehmen oder den jeweils ausgeführten Job als Hauptrahmen für Bildungsangebote hinaus. Arbeitgeber müssen Bildung als ein sinnvolles Instrument zur Bewältigung von Transformation und Übergängen anerkennen. Lernen mit diesem Anspruch umfasst nicht nur Wissen und praktische Fähigkeiten, es berührt auch Einstellungen und Emotionen. Unter Einbezug außerschulischer, außerbetrieblicher und sich als politische Bildung begreifender Angebote können hierbei neue Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden, die die Grenzen zwischen Unternehmen und (Zivil)Gesellschaft durchlässig machen. Individualisierte (z. B. modulare) Lernangebote ermöglichen, das neu Erlernte innerhalb und außerhalb des Unternehmens anzuwenden. Maßgeschneidert statt Taylorismus. Welche Angebote kann die politische Bildung in diesem Sinne machen?
Insbesondere die non-formale Bildung spielt eine entscheidende Rolle bei der Vernetzung von Lernerfahrungen im Sinne eines „continuous learning“ über Lebensphasen, Orte und Lernkontexte hinweg. Daher gäbe der EWSA ihr (neue) strategische Priorität: „Die nicht-formale Bildung ist von entscheidender Bedeutung für die weitere Förderung inklusiver Bildungssysteme und ein Schlüsselelement für das lebensbegleitende und alle Lebensbereiche umfassende Lernen. Daher sollte, wie vom EWSA in seiner früheren Stellungnahme vorgeschlagen, mehr Gewicht auf die Bewertung und Validierung der Ergebnisse der nicht-formalen Bildung und des informellen Lernens sowie auch auf die Unterstützung aller Interessenträger in diesem Bereich gelegt werden.“ (EWSA 2019, 4.9)
Heute wird anerkannt, dass eine friedliche, inklusive und diversitätsbewusste demokratische Kultur nicht allein über Integration der Bürger*innen in den Arbeitsmarkt erreicht wird.
Ein weiterer Partner für die Weiterbildung und das kompetenzorientierte Lernen im Sinne der politischen Bildung ist die Zivilgesellschaft. Jugendorganisationen, Bürgerinitiativen und Vereine sind Räume zum Erwerb von Kommunikations- und Kooperationskompetenzen. Diese als (informelle oder nonformale) Lernräume verstehend böten sich beiden, Bildung und Zivilgesellschaft, neue Chancen zu mehr Reichweite und Relevanz. Das Bildungssystem sollte dies anerkennen. Die Brücke ins bürgerschaftliche Engagement könnte der politischen Bildung neue Pfade eröffnen.
Lernen mit digitaler Technologie
Der Aktionsplan digitale Bildung (EU ADB) beschreibt die Erwartung der EU, dass das Lernen mit digitaler Technologie weiter vorangebracht werden soll und setzt als eine Priorität die „Förderung der Entwicklung eines leistungsfähigen digitalen Bildungsökosystems“ (Europäische Kommission 2016). Damit ist insbesondere der Aufbau digitaler Infrastruktur und Lerninhalte gemeint, aber auch die Einbettung digitaler Prozesse mittels Plattformen in die Bildungsangebote (Europäische Kommission 2020b, S. 13). Mit der Forderung „ethischer Leitlinien für Lehrkräfte über die Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI) und Daten für Lehr- und Lernzwecke“ (ebd., S. 15) verknüpft, ist auch die politische Bildung gefragt, Bedingungen zu diskutieren und Modelle zu entwickeln, die nicht einfach in datenkapitalistischer (oder wie Zuboff sagt, überwachungskapitalistischer) Manier die Bildung datafizieren. Wie viel digital unterstützte Lernanalytik kann oder soll sein? Unter welchen Bedingungen? Wie kann man das umsetzen?
Ein weiterer Partner für die Weiterbildung und das kompetenzorientierte Lernen im Sinne der politischen Bildung ist die Zivilgesellschaft. Jugendorganisationen, Bürgerinitiativen und Vereine sind Räume zum Erwerb von Kommunikations- und Kooperationskompetenzen.
Lernkonten sind ein digitales Kompetenz- und Wissensportfolio, das portabel von Lerner*innen arbeitgeberübergreifend genutzt werden kann. Das bekannteste ist der französische Compte Personnel de Formation (CPF) (vgl. Martin 2017, S. 8). Neben der Kompetenz-Anerkennungs- und Dokumentierfunktion bietet er seinen Besitzer*innen ein Bildungsguthaben und verbrieft ihnen ein Recht auf lebenslanges Lernen. Die High Level Expert Group der EU-Kommission zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt fordert in Anlehnung daran ein europäisches Instrument, den Digital Skills Personal Learning Account (DSPLA). Auch dieser soll die Eigentümer*innen berechtigen, „Trainings zu digitaler Kompetenz zu besuchen. Der DSPLA wird durch einen elektronischen Pass ergänzt, in dem die Erfahrungen der erworbenen digitalen Fähigkeiten gesichert werden sollen und auf die von überall her von allen Anspruchsgruppen zugegriffen werden“ könne (Europäische Kommission 2019a). Inwieweit wäre dieses Instrument interessant für die politische Bildung? Wenn hier vorrangig die berufliche Bildung Interesse zeigt und im non-formalen Sektor immer wieder auf die vielfältigen Grenzen von Validierung hingewiesen werden, so kann die politische Bildung doch nicht die Augen davor verschließen, dass es ein gestiegenes Bedürfnis nach Anerkennung und Beschreibung von Lernerfahrungen gibt, gerade auch im Bereich des freiwilligen Engagements (vgl. Boivin/Baez 2019). Diskutiert werden dezentrale und einfach anwendbare digitale Lösungen, der Nachweis auch kleinerer Lernerfolge (micro-credentialing) oder Elemente jenseits eines klassischen Zertifikats oder einer Teilnahmebescheinigung (wie Open Badges).
Zum Autor
zimmermann@adb.de