Außerschulische Bildung 3/2021

Politisierung des Alltags in Krisenzeiten – Chance für die politische Bildung?

Was die politische Bildung in Pandemie-Zeiten leisten und lernen muss

„Krise“ bedeutet „kritischer Wendepunkt“ – an einem solchen steht die Gesellschaft in Zeiten der Pandemie und mit ihr die politische Bildung als Teil und Spiegel der Gesellschaft. „Wendepunkte“ sind eine Chance, die Richtung zu ändern. Es geht also nicht nur darum, in stürmischen Zeiten zu überleben, sondern die Krise anzunehmen, Defizite zu erkennen und daraus zu lernen – für Themen, Formate, Zielgruppen und für das Verhältnis von politischer Bildung zur Demokratie. von Anja Dargatz

Die Pandemie-Situation hat Deutschland politisiert. Nach Jahrzehnten relativer Sicherheit vor Kriegen wie vor Seuchen ist das Land nun in einer Situation, die Einschränkungen erfordert, wie sie nur aus entfernten Krisengebieten bekannt sind: Maskentragen, Sperrstunde, geschlossene Schulen und überfüllte Krankenhäuser. Vor allem: Es ist kein klares Ende abzusehen. Selbst wenn die Bevölkerung durchgeimpft ist, bleibt die Ungewissheit: Wie geht es weiter? Mit welchen Folgen werden Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Zukunft noch zu kämpfen haben? Wird es zukünftig weitere Epidemien auch in Deutschland geben? Was in Ländern mit schwacher Infrastruktur, unzureichendem Gesundheitssystem und niedriger Wirtschaftskraft eine zwar schlimme, aber dann eben doch eine Krise unter vielen ist, wird in Deutschland als einzigartige Katastrophe wahrgenommen.

Politik ist in diesen Krisenzeiten allgegenwärtig

In diesen Zeiten der Planlosigkeit, Verwirrung, der Ängste und Unsicherheit tritt die Politik (besser hier vielleicht: „der Staat“, „das staatliche Handeln“, „Staat und Verwaltung“) als maßgeblicher Akteur in den Vordergrund. In einer funktionierenden Demokratie kümmert sich der Staat um seine Bürger*innen, nicht nur in Krisenzeiten, aber gerade in diesen wird es für jede und jeden offensichtlich. Nun werden auch Menschen, die sich weder beruflich, noch aktivistisch oder zeitungslesend mit Politik auseinandersetzen, mit ihr und ihren Funktionsweisen konfrontiert. Während in krisenfreien Zeiten die Auswirkungen von politischen Entscheidungen, z. B. zu Steueranpassungen oder Infrastrukturprojekten, verspätetet und über Umwege die Menschen erreichen, sind die Effekte nun in kürzester Zeit spürbar: in Berlin entschieden, von der jeweiligen Landeshauptstadt verordnet – und schon schließen die Geschäfte. Das komplexe Geflecht der politischen Entscheidungsfindung wird offensichtlich. Welche Rolle haben die Bundesländer in politischen Abstimmungsprozessen? Welche die Kommunen und Landkreise? Was bedeutet eine flächendeckende Gesundheitsversorgung? Wer kannte vor dem März 2020 die Funktion des Robert-Koch-Instituts? Was bedeuten die in der Verfassung verankerten Grundrechte und wann darf sie wer einschränken? Wann wird welche Demonstration wo verboten? Unmittelbar verknüpft sind damit die ethisch-moralischen Fragen: Wer kannte vor der Pandemie den Begriff „Triage“, geschweige denn, dass man sich darüber Gedanken machte, wer dafür im Ernstfall welche Kriterien festlegt? Wiegt das Recht auf einen abendlichen Spaziergang mehr als die Notwendigkeit, Mobilität zu reduzieren? Wer wird zuerst geimpft? Mit solchen Fragen haben sich bislang in der Regel Ethik-Kommissionen beschäftigt. Nun prasseln sie mit aller Wucht auf die Gesellschaft nieder. Selbst für diejenigen, die allen Medien entsagen, gibt kein Entkommen: Politik ist allgegenwärtig.

Solidarität statt Abstand – Politische Bildung muss sich für ein gemeinschaftliches Politikverständnis einsetzen. Foto: Anja Dargatz/FES

Die Aufgabe von politischer Bildung ist es aufzuklären, Orientierung zu geben und zu eigenständigen Entscheidungen zu befähigen – in Krisenzeiten ist dies mehr denn je gefragt. Und so zeigt sich, dass die Nachfrage nach Angeboten der politischen Bildung groß, in vielen Einrichtungen sogar gestiegen ist. Die Menschen suchen Orientierung, manche haben auch schlichtweg mehr Zeit, Angebote wahrzunehmen. Letzteres klingt banal, ist aber ein gesamtgesellschaftliches Thema, wenn es um Engagement und Mitbestimmung geht: Wer es sich zeitlich leisten kann, ist dabei. Die anderen, die Kinder, Haushalt und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen müssen, nicht.

Die Aufgabe von politischer Bildung ist es aufzuklären, Orientierung zu geben und zu eigenständigen Entscheidungen zu befähigen – in Krisenzeiten ist dies mehr denn je gefragt.

Es darf auf keinen Fall zynisch klingen, aber die Rahmenbedingungen für politische Bildung sind mehr als günstig – auch wenn die Umstellung ins Digitale für viele Anbieter zunächst ein Kraftakt war. Einige Einrichtungen, vorneweg die Landeszentralen für politische Bildung, hatten auch bereits vor der Pandemie professionelle online- und e-learning-Angebote. Die Mehrheit betrat im März 2020 den Pfad der nachholenden digitalen Entwicklung. Über ein Jahr konnten nun digitale Formate erprobt und ausgewertet werden. In der Notsituation ging vieles schneller umzusetzen, gab es den Mut und das Verständnis für Improvisation, den es braucht, um neue Wege zu gehen. Und ein Jahr danach können Anbieter und Einrichtungen nun überlegen, wie ein Programm in einer post-pandemischen Welt aussehen kann: ein Programm, das das Beste aus der analogen und digitalen Welt vereint. Aus verschiedenen Austauschrunden von Einrichtungen der politischen Bildung lassen sich folgende Erfahrungen mit digitalen Formaten resümieren:

Chancen:

  • Steigerung der Zahl der Teilnehmenden
  • Erreichung spezieller Zielgruppen
  • Mehr Flexibilität bei der Zeitgestaltung, wie z. B. Frühstücks- oder Mittagsformate
  • Mehr Flexibilität bei der Auswahl von Referent*innen (keine Anreise, international)
  • Unkomplizierte Aufzeichnung und Dokumentation der Veranstaltung
  • Unkomplizierte technische Analyse der Teilnehmenden (Blieben die Teilnehmenden bis zum Schluss? Wie viele haben abgebrochen? Klickzahlen bei Digitalprodukten usw.)
  • kostengünstiger

Herausforderungen:

  • Reduzierte persönliche Interaktion
  • Größere Anonymität
  • Ausschluss bestimmter Zielgruppen
  • Unverbindlichkeit: Hohe No-Show-Rate
  • Stärkere Konkurrenz, weil Online-Angebote unbegrenzt beworben werden können; analoge Angebote sind hingegen regional begrenzt
  • Preisverfall bei Bezahl-Angeboten seit der Markt mit Online-Angeboten geflutet wird (plus der Grundsatzfrage nach den Gebühren)
  • Existenzgefährdung für Tagungshäuser

Die Liste macht deutlich: Es sind Fragen, die die politische Bildung permanent umtreiben und die durch die aktuelle Situation einen neuen Auftrieb erfahren haben. Aus der Vielzahl der Diskussionspunkte möchte ich einen herausgreifen: das Erreichen der Gesellschaft – möglichst weit- und tiefgreifend. Neben dem gesellschaftspolitischen Anspruch besteht auch eine Verpflichtung, die aus öffentlicher Finanzierung erfolgt, ein Angebot für alle Bevölkerungsgruppen zu machen. Hilft die Digitalisierung, die Reichweite zu erhöhen? Hilft die aktuelle politisierte Situation dabei?

Politische Bildung erreicht digital die, die sie immer erreicht – zeitgemäßer

Ein Beispiel dazu aus dem eigenen Haus: 2020 konnte das Fritz-Erler-Forum seine Teilnehmendenzahl mehr als verdoppeln – 10 % waren Teilnehmer*innen, die vorher noch nicht an Angeboten des Fritz-Erler-Forums teilgenommen haben. Auf die Frage, ob das digitale Format die Teilnahme ermöglicht oder wenigstens erleichtert habe, antworten durchweg 90–100 % mit „Ja“. Die Auswertung nach Postleitzahl zeigt: Da, wo das Fritz-Erler-Forum regional auch in der Vergangenheit gut vertreten war und gute Verteiler hatte, war es das auch 2020 der Fall. Die regionale Verteilung hat sich proportional nicht verändert. Der Anteil der Teilnehmenden mit Bildungsabschlüssen Diese Daten werden nur von den Kompetenzseminaren erhoben, nicht bei den öffentlichen Diskussionsveranstaltungen. unter Hochschule/Gymnasium ist gesunken. Im Bereich der kommunalpolitischen Kompetenz-Seminare ist der Anteil der 28–40-Jährigen (die Menschen in der „Rush-hour“ des Lebens) um 10 % gestiegen, bei den allgemeinen Seminaren ist hingegen der Anteil der über 65-Jährigen um 14 % gestiegen, der Anteil der Menschen in Familien- und Berufsphase ist hier zurückgegangen. Der Anteil der Frauen ist um 12 % bzw. 8 % gesunken. Die Schwankungen bewegen sich allerdings in dem Bereich, den wir über die Jahre auch ohne Krise kennen. Sie sind deshalb erstmal nur ein Hinweis darauf, sich die Daten ganz genau anzuschauen. Die regionale Entgrenzung durch digitale Formate passiert nicht automatisch. Pauschale Aussagen wie: „Das Publikum wird weiblicher und jünger“, lassen sich hier ebenfalls nicht bestätigen. Die Sorge, dass Älteren die Teilnahme durch digitale Angebote erschwert wird, spiegeln die Daten ebenfalls nicht wider. Hingegen entsprechen die Daten zum Bildungsgrad, der ja häufig mit einem bestimmten sozialen Status einhergeht, den Befürchtungen, bestimmte soziale Gruppen durch das digitale Format auszuschließen bzw. nicht ausreichend anzusprechen.

Politische Bildung erreicht digital die, die sie immer erreicht – besser, moderner, mehr.

Daraus lässt sich die These ableiten: Politische Bildung erreicht digital die, die sie immer erreicht – besser, moderner, mehr. Das darf nicht unterschätzt werden. Politische Bildung muss auch mit dem Lebenswandel und den Ansprüchen derer mithalten, die an den Angeboten interessiert sind. Aber: Digitale Formate sind keine Wunderwaffe, um Menschen zu erreichen, die vorher nicht erreicht wurden – seien es regionale Leerstellen oder bestimmte soziale Gruppen.

Wer abgehängt ist, bleibt es

Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es bekannter Methoden wie der aufsuchenden Bildungsarbeit. Das lässt sich auf Regionen beziehen – gezielte Ansprache und Einbindung von Akteuren vor Ort – oder auf soziale Gruppen. Das kann analog oder digital geschehen – was jeweils didaktisch opportun erscheint. Angesichts der Krise, die gerade Menschen am sozialen Rand besonders hart trifft, besteht dieser Gruppe gegenüber eine besondere Verantwortung. Und hier entfaltet die Krise auch in der politischen Bildung ihre volle Kraft. Wichtige Projekte der aufsuchenden (politischen) Bildung können nicht durchgeführt werden, weil Obdachlosen-Cafés, Tafeln und Unterkünfte geschlossen sind oder reduzierten Besuchsverkehr haben. Auch Menschen, die noch nicht aus dem System gefallen sind, aber Struktur und direkte Ansprache brauchen, um den Alltag zu bewältigen, sind in diesen Zeiten überfordert. Termine einzuhalten, ist generell für viele dieser Menschen schwierig, wenn sie dann noch digital sind, sind Rückzug und Isolation vorprogrammiert. Gerade die, die unter der Krise besonders leiden, werden kaum mehr von der Sozialarbeit erreicht, geschweige denn von weiterführenden Angeboten. Hier stellen sich ganz andere Anforderungen, als einen Rhetorik-Kurs in ein Online-Format zu überführen.

Selbstbestimmter Umgang mit digitalen Instrumenten als Lernziel – nicht nur – für Kinder und Jugendliche

Eine andere Gruppe sind Kinder und Jugendliche. Über Planspiele oder Projekte werden Schüler*innen von Angeboten der politischen Bildung grundsätzlich gut erreicht. Jetzt gilt es zu überprüfen, ob die Angebote den Anforderungen der Krise gerecht werden. Dabei geht es nicht nur darum, Planspiele pandemiebedingt in den virtuellen Raum zu verlegen und später vielleicht auszuwerten, ob dies auch dauerhaft ein ergänzendes Modell sein könnte. Die mangelnde Digitalisierung von Schulen ist breit kritisiert und beschrieben worden. Neben technischem Equipment und einer entsprechenden Didaktik gehört dazu auch der selbstbestimmte Umgang mit der Technik. Kinder und Jugendliche nutzen in diesen Zeiten sehr viel mehr digitale Medien als vorher. Die tägliche Internetnutzungsdauer ist, nach Einschätzung der Jugendlichen selbst, von 205 Minuten im Jahr 2019 auf 258 Minuten pro Tag in 2020 deutlich gestiegen (vgl. mpfs 2020, S. 33). Sind sie fit dafür? Wissen sie, was mit ihren Daten geschieht? Wie sie sich schützen können – sei es vor Kommerz oder Anfeindungen? Mehr Nutzung erfordert mehr Aufklärung. Interessanterweise sind es gerade die sonderpädagogischen Einrichtungen, die den Regelschulen in Sachen Digitalität voraus sind. Für viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen sind digitale Hilfsmittel Alltag: Die App, die geschriebene Texte vorlesen kann, der Navi der den Weg zur Schule zeigt. Auch das weitestgehend von einem Curriculum befreite Lernen hilft dabei, das anzubieten, was Schüler*innen akut brauchen. Die Frage einer formellen Einführung eines Faches „Medienkompetenz“ stellt sich bei dieser Art des Lernens nicht: Wenn es notwendig ist, wird es aufgenommen. Entsprechend beschäftigen sich diese Einrichtungen auch schon lange mit ihrer digitalen Verantwortung (vgl. FES 2021).

Die Krisenzeit macht deutlich: Menschen auf dem Weg der zunehmenden Digitalisierung mitzunehmen und zu befähigen ist derzeit eine relevante Aufgabe der politischen Bildung.

Ein anderes Beispiel sind die Smartphone-Kurse (nicht nur) für Ältere bei den Volkshochschulen. Hier werden Erfahrungen gesammelt, wie man Zugang zur digitalen Welt und ein verantwortungsbewusstes Bewegen in ihr möglichst niedrigschwellig organisieren kann. Kann hier der Regelbetrieb, seien es Schulen aber eben auch Einrichtungen der politischen Bildung, von diesen Erfahrungen lernen? In einem Fachtag der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg („Politische Bildung in Zeiten des Wandels“ am 5. Mai 2021) bejaht Prof. Dr. Mandy Schiefner-Rohs, TU Kaiserslautern, diese These.

Die Krisenzeit macht deutlich: Menschen auf dem Weg der zunehmenden Digitalisierung mitzunehmen und zu befähigen ist derzeit eine relevante Aufgabe der politischen Bildung.

Angriffe auf die Demokratie – aus der gesellschaftlichen Mitte

Neben der Aufgabe von Teilhabe und Befähigung zur Demokratie zeigt sich in der Krisenzeit noch eine andere Aufgabe der politischen Bildung, ebenfalls nicht neu: die Verteidigung der Demokratie. Der 1976 gefundene Beutelsbacher Konsens der politischen Bildung hat bis heute seine Gültigkeit: Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Befähigung zum Erkennen und Formulieren der eigenen Interessen (vgl. Sander 2014, S. 160). Angesichts der aktuellen hohen Polarisierung sticht das Gebot zur Kontroverse hervor. Welche Aufgabe kommt in diesem Sinne der politischen Bildung in Krisenzeiten, die gemeinhin besonders kontrovers sind, zu? Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, erklärt hierzu: „Es gilt, in der politischen Bildung keinen ‚falschen‘ gesellschaftlichen Konsens vorzutäuschen, wo es diesen nicht gibt, sondern stets die gesellschaftliche Pluralität an Werten, Einstellungen und Meinungen abzubilden. Das bedeutet vor allem, mehr als nur eine Perspektive zu Wort kommen zu lassen, und stets einen möglichst repräsentativen Querschnitt durch die Meinungslandschaft abzubilden.“ (Krüger 2020) Doch was heißt dies, wenn die Demokratie z. B. von extremen Rechten attackiert wird? Gehören die zur abzubildenden Debatte dazu? Nein, um es mit den Worten von Aleida und Jan Assmann, Träger*innen des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, zu sagen: „Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen für Meinungsvielfalt zu untergraben.“ (Zitiert nach Krüger 2020) Und mit Bezug auf die schulische politische Bildung sagt die Didaktik-Professorin Anja Besand: „Wenn es um Kontroversität in der politischen Bildung geht, sind Lehrerinnen und Lehrer in eben diesem Sinne auch nicht verpflichtet, Schülerinnen und Schüler darauf hinzuweisen, dass es auch Menschen gibt, die den Holocaust leugnen. Sie müssen keine extremistischen oder radikalen Positionen in ihren Unterricht einbringen, wenn diese nicht von alleine dort vorkommen. Und wenn solche Positionen sichtbar werden, dann dürfen – nein müssen sie diesen Äußerungen auch widersprechen. Nichts ist in einem solchen Zusammenhang schädlicher als Lehrerinnen und Lehrer mit indifferenter Haltung.“ (Besand o. J.) In diesem Sinne Demokratie nicht zu vermitteln, sondern erfahrbar zu machen, empfehlen auch Sabine Achour und Susanne Wagner in ihrer Studie zu politischer Bildung an Schulen. Die dort gemachten Umfragen zeigen, dass beispielsweise das Gebot der Kontroversität an Gymnasien stärker gelebt wird als an anderen Schulformen (vgl. Achour/Wagner 2019, S. 76).

Cockpit statt Stuhlkreis? Politische Bildung braucht beides. Foto: David Röthler/FES

Anlass dieser Debatte waren – und sind es immer noch – die Angriffe von Rechts auf die Demokratie von der Straße, aber eben auch von gewählten Volksvertreter*innen. Solche Angriffe auf die Demokratie haben in Pandemie-Zeiten mit der Querdenker-Bewegung eine diffuse, schwer zu analysierende und deshalb nicht minder gefährliche Ausdrucksform bekommen (vgl. Schwartz 2020). Menschen, die mit den Corona-Maßnahmen nicht einverstanden sind, mischen sich mit Impfgegner*innen, Esoteriker*innen und radikalen Rechten. Eine klare Distanzierung von den rechten „Mitläufer*innen“ fehlt. Aber es ist nicht nur die Nähe zum Extremismus, die gefährlich ist. Gerade die Gemäßigten, eher Besorgten der gesellschaftlichen Mitte zeigen ein Staats- und Demokratieverständnis, das aufhorchen lässt. Diktatur- und Faschismusvergleiche gehen zusammen mit einer Aneignung von Symbolen und Symbolfiguren, die historisch nicht nur unzulässig, sondern auch respektlos ist. Das Grundgesetz wird wahllos und falsch zitiert. Die Öffentlich-Rechtlichen sind „Systemmedien“.

Aus meiner Sicht ist es aber besonders bedenklich, dass das vermeintlich individuelle Freiheitsrecht über der gesellschaftlichen Solidarität steht. So wurde im Februar die landesweite Ausgangssperre in Baden-Württemberg – über deren Sinnhaftigkeit fachlich gestritten werden kann – von einem Gericht gekippt, weil eine Bürgerin ihr Recht auf einen nächtlichen Spaziergang am Neckar verletzt sah (vgl. Schwäbisches Tagblatt 2021). Seit März 2020 gab es unzählige Prozesse und Schnellverfahren, wenn sich Kommunen dazu entschieden, aus Sicherheitsgründen Demonstrationen zu verbieten. Der Gang zum Gericht ersetzt die Auseinandersetzung über die Instrumente der repräsentativen Demokratie. Im Moment der Einschränkung erkennen anscheinend viele Menschen erst den Wert ihrer Freiheitsrechte und fordern sie ohne Rücksicht auf Verluste ein. Sie setzen das eine Grundrecht (z. B. Freizügigkeit, Art. 11) absolut und negieren damit eine anderes (z. B. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2), was in der Konsequenz auf ein unsolidarisches Verhalten hinausläuft.

An den genannten Beispielen ist nichts illegal oder würdig, vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Aber es gefährdet die Demokratie – und hier hat die politische Bildung eine Aufgabe. Zum einen müssen die vielen Menschen gestärkt werden, die sich für eine solidarische Gesellschaft einsetzen: mit Argumenten, durch Vernetzung mit Gleichgesinnten. Völlig Radikalisierte, in welche Richtung auch immer, erreicht politische Bildung kaum – aber was ist mit der diffusen Mitte, die so breit und groß ist, dass am Karsamstag 2021 in Stuttgart 15.000 mit den Querdenkern demonstrieren? Hier funktioniert keine aufsuchende Bildungsarbeit, weil es gar keinen Ort gibt, wo man sie aufsuchen könnte – so verteilt sind sie im Land, in den sozialen Milieus und über die Generationen. Das Massenphänomen wird sich vermutlich mit der Normalisierung der Pandemie-Lage auflösen, aber die Gedanken und Einstellungen bleiben. Die Politik wird dann mitgenommen von der Straße ins Private. Wie erreicht man Menschen im Privaten? Mit einer von der Bundeszentrale für politische Bildung produzierten Netflix-Serie über solidarisches Zusammenleben? Den Algorithmus von Instagram und Facebook hacken, damit differenzierte Inhalte eine Chance haben, angezeigt zu werden? Mit der guten alten Postwurfsendung? Mit einer Kümmerer-Sprechstunde für Politik im Supermarkt? Mit dem Stadtteilfest mit Kaffee, Kuchen und gelebten Miteinander? Was auch immer: Es hat irgendetwas mit Rausgehen und „Nah-bei-de-Leut“ zu tun und richtet sich nicht an vermeintlich problematische Randgruppen, sondern an die Mehrheitsgesellschaft.

Zur Autorin

Anja Dargatz leitet seit 2016 das Fritz-Erler-Forum, Landesbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart.
Anja.Dargatz@fes.de

Literatur

Achour, Sabine/Wagner, Susanne (2019): Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen: Bestandsaufnahme, Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen. Schriftenreihe des Netzwerk Bildung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung; http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/15611.pdf (Zugriff: 10.05.2021)
Besand, Anja (o. J.): Beutelsbach als Waffe. Über die Einschüchterungsversuche von ganz Rechts und wie die Schule, Staat und Lehrkräfte darauf reagieren können; www.sowi-online.de/kontroverse/beutelsbach_waffe.html (Zugriff: 10.05.2021)
FES – Friedrich-Ebert-Stiftung (2021): Aufzeichnung der Veranstaltung „Wachsende Abstraktion Komplexität in der Arbeitswelt“ am 14. April 2021; www.youtube.com/watch?v=X3esdRHqOkQ (Zugriff: 10.05.2021)
Krüger, Thomas (2020): Rede „Zwischen Konflikt und Konsens – Anforderungen an die politische Bildung in der komplexen Demokratie“; www.bpb.de/presse/305596/rede-zwischen-konflikt-und-konsens-anforderungen-an-die-politische-bildung-in-der-komplexen-demokratie (Zugriff: 10.05.2021)
mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2021):JIM-Studien 2020. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Stuttgart: LFK; www.mpfs.de/studien/jim-studie/2020 (Zugriff: 10.05.2021)
Sander, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag (4. Auflage)
Schwäbisches Tagblatt (2021): Es geht ihr um Grundrechte – und Neckarspaziergänge. Klägerin gegen Ausgangssperre; www.tagblatt.de/Nachrichten/Es-geht-ihr-umdie-Grundrechte-489334.html (Zugriff: 10.05.2021)
Schwartz, Kolja (2020): Querdenker, Corona-Leugner, Wutbürger – Woher kommt der Frust im Südwesten? SWR-Doku vom 28.10.2020; www.youtube.com/watch?v=5g_j2eAsgAg (Zugriff: 10.05.2021)