Außerschulische Bildung 3/2021

Politisierung des Alltags in Krisenzeiten – Chance für die politische Bildung?

Was die politische Bildung in Pandemie-Zeiten leisten und lernen muss

„Krise“ bedeutet „kritischer Wendepunkt“ – an einem solchen steht die Gesellschaft in Zeiten der Pandemie und mit ihr die politische Bildung als Teil und Spiegel der Gesellschaft. „Wendepunkte“ sind eine Chance, die Richtung zu ändern. Es geht also nicht nur darum, in stürmischen Zeiten zu überleben, sondern die Krise anzunehmen, Defizite zu erkennen und daraus zu lernen – für Themen, Formate, Zielgruppen und für das Verhältnis von politischer Bildung zur Demokratie. von Anja Dargatz

Die Pandemie-Situation hat Deutschland politisiert. Nach Jahrzehnten relativer Sicherheit vor Kriegen wie vor Seuchen ist das Land nun in einer Situation, die Einschränkungen erfordert, wie sie nur aus entfernten Krisengebieten bekannt sind: Maskentragen, Sperrstunde, geschlossene Schulen und überfüllte Krankenhäuser. Vor allem: Es ist kein klares Ende abzusehen. Selbst wenn die Bevölkerung durchgeimpft ist, bleibt die Ungewissheit: Wie geht es weiter? Mit welchen Folgen werden Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Zukunft noch zu kämpfen haben? Wird es zukünftig weitere Epidemien auch in Deutschland geben? Was in Ländern mit schwacher Infrastruktur, unzureichendem Gesundheitssystem und niedriger Wirtschaftskraft eine zwar schlimme, aber dann eben doch eine Krise unter vielen ist, wird in Deutschland als einzigartige Katastrophe wahrgenommen.

Politik ist in diesen Krisenzeiten allgegenwärtig

In diesen Zeiten der Planlosigkeit, Verwirrung, der Ängste und Unsicherheit tritt die Politik (besser hier vielleicht: „der Staat“, „das staatliche Handeln“, „Staat und Verwaltung“) als maßgeblicher Akteur in den Vordergrund. In einer funktionierenden Demokratie kümmert sich der Staat um seine Bürger*innen, nicht nur in Krisenzeiten, aber gerade in diesen wird es für jede und jeden offensichtlich. Nun werden auch Menschen, die sich weder beruflich, noch aktivistisch oder zeitungslesend mit Politik auseinandersetzen, mit ihr und ihren Funktionsweisen konfrontiert. Während in krisenfreien Zeiten die Auswirkungen von politischen Entscheidungen, z. B. zu Steueranpassungen oder Infrastrukturprojekten, verspätetet und über Umwege die Menschen erreichen, sind die Effekte nun in kürzester Zeit spürbar: in Berlin entschieden, von der jeweiligen Landeshauptstadt verordnet – und schon schließen die Geschäfte. Das komplexe Geflecht der politischen Entscheidungsfindung wird offensichtlich. Welche Rolle haben die Bundesländer in politischen Abstimmungsprozessen? Welche die Kommunen und Landkreise? Was bedeutet eine flächendeckende Gesundheitsversorgung? Wer kannte vor dem März 2020 die Funktion des Robert-Koch-Instituts? Was bedeuten die in der Verfassung verankerten Grundrechte und wann darf sie wer einschränken? Wann wird welche Demonstration wo verboten? Unmittelbar verknüpft sind damit die ethisch-moralischen Fragen: Wer kannte vor der Pandemie den Begriff „Triage“, geschweige denn, dass man sich darüber Gedanken machte, wer dafür im Ernstfall welche Kriterien festlegt? Wiegt das Recht auf einen abendlichen Spaziergang mehr als die Notwendigkeit, Mobilität zu reduzieren? Wer wird zuerst geimpft? Mit solchen Fragen haben sich bislang in der Regel Ethik-Kommissionen beschäftigt. Nun prasseln sie mit aller Wucht auf die Gesellschaft nieder. Selbst für diejenigen, die allen Medien entsagen, gibt kein Entkommen: Politik ist allgegenwärtig.