Außerschulische Bildung 1/2024

Protest als Ressource?

Jugendprotest und soziale Bewegungen als Räume politischer Bildung

Protestbewegungen und Protestphänomene – wie jüngst z. B. die sogenannten Klimakleber oder die zahlreichen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus im Winter 2024 – werden vorrangig im Hinblick auf ihre politische Bedeutung diskutiert. Zugleich werden diese Bewegungen und Ereignisse von Akteuren getragen, die alle eine motivierende, genauer gesagt: politisierende Vorgeschichte mitbringen und die mit ihrem Protest und ihren Aktionen Erfahrungen unterschiedlicher Art machen. Nicht selten erweist sich die Teilnahme an Protestaktionen dabei als ein Katalysator. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Protestphänomene, Protestbewegungen und, wenn es sich um junge Menschen handelt, dem Schwerpunkt der folgenden Überlegungen, entsprechende Jugendkulturen auch als Räume politischer Bildung zu verstehen, wie dies der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vorgeschlagen hat. von Christian Lüders

Im Mittelpunkt des im Herbst 2020 veröffentlichten 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung (KJB) stehen unterschiedliche Räume politischer Selbstbildung. Neben weitgehend pädagogisch institutionalisierten Räumen wie dem Kindergarten, der Schule, den Angeboten der beruflichen Bildung, der Kinder- und Jugendarbeit, den Hochschulen und den Freiwilligendiensten, um nur ein paar zu nennen, geht die Sachverständigenkommission im Bericht auch auf Jugendkulturen und soziale (Protest-)Bewegungen ein (vgl. BMFSFJ 2020). Das entsprechende Kapitel ist mit „Proteste, soziale Bewegungen und Jugendkulturen“ überschrieben. Die Aufmerksamkeit wird dabei vorrangig auf von Jugendlichen und jungen Erwachsene getragene Szenen, Kulturen, Protestaktionen und Bewegungen gelenkt. Der besseren Lesbarkeit willen ist im Folgenden meist von Jugendkulturen und sozialen (Protest-)Bewegungen die Rede. 81: Dieser Text basiert auf dem gleichnamigen Beitrag des Autors in der APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ (APuZ 38–39/2021, S. 23–28). Der Fokus auf junge Menschen will dabei nicht in Abrede stellen, dass nicht auch Erwachsene nachhaltige Bildungsprozesse im Rahmen demokratischen Engagements und im Kontext von Protestbewegungen durchlaufen; dies wäre jedoch ein anderes Thema.]

Politische Bildung wird von den Autor*innen des 16. Kinder- und Jugendberichts als ein von Subjekten – in diesem Kontext also von Jugendlichen und jungen Erwachsenen – „getragener Prozess der Herausbildung von Mündigkeit, der sich an demokratischen Grundwerten wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Solidarität, Emanzipation und Freiheit orientiert“, begriffen. Dem liegt ein Politikverständnis zugrunde, wonach Politik die „Gesamtheit der Aktivitäten und Strukturen (ist), die auf die Herstellung, Durchsetzung und Infragestellung allgemein verbindlicher und öffentlich relevanter Regelungen in und zwischen Gruppierungen von Menschen abzielt“ (ebd., S. 527; S. 108). Ein derartiges weites Politikverständnis ist auch in der auf Jugendliche bezogenen Fachdiskussion keineswegs selbstverständlich (vgl. etwa den Sammelband Gürlevik/Hurrelmann/Palentien 2016, in dem ein deutlich engerer Politikbegriff, stark orientiert an formalisierten Verfahren und Strukturen, dominiert.

Verknüpft mit einem prozeduralen Verständnis von Demokratie, wonach „Demokratie in ihrer konkreten Erscheinungsform historisch geworden ist und immer neu ausgehandelt wird“, verstehen die Sachverständigen – auch angesichts der Geschichte des Praxisfeldes und des Standes der Fachdiskussion – politische Bildung als unauflösbar an demokratischen Prinzipien und Werten orientiert: „Die Kommission verwendet daher das im deutschen wissenschaftlichen und praxisbezogenen Diskurs anerkannte Konzept der Politischen Bildung, auch wenn dieser Begriff vielfach durch spezifische Akzentsetzungen der Demokratiebildung und der Demokratiepädagogik Verwendung findet (…).“ (BMFSFJ 2020, S. 110; S. 128 f.) Bewusst wird dabei auf ein klassisches Verständnis von Bildung im Sinne der Selbstkonstruktion des Subjektes (vgl. Tenorth 2020), also im Sinne von Selbstbildung, rekurriert, während man gegenüber Top-Down-Vorstellungen der Vermittlung von Demokratie eher Distanz wahrt.