Ein Kommentar von Alexej Boris
Gibt es eine Grenze zwischen Provokation und Beleidigung? Klar doch. Das spürt doch jeder Mensch. Intuitiv. Mit einem kleinen „aber“.
Diese Grenze liegt für jeden Menschen woanders und DAS ist das Problem. Da wir nicht wissen, wo diese Grenze bei den anderen Menschen liegt, macht doch das ganze Zusammenleben so kompliziert.
Manche fühlen sich doch schon von der Kleidung der anderen provoziert und dadurch beleidigt. Minirock? Lange Haare? Stiefel? Ja. Aber doch nicht bei einem Mann! Damit meine ich die Stiefel und nicht den Minirock. Tattoos? Wenn ich in der Sauna bin, bin ich gefühlt der Einzige, der nicht tätowiert ist? Beleidige ich die anderen oder die anderen mich? Oder ist es Provokation? Bunte Haare? Zu kurze Haare? Seit 20 Jahren trage ich als kräftig gebauter Schauspieler eine Glatze. Nun unterstellen (!) mir aufgrund meines Aussehens manche Gastronomen politische Gesinnung und fühlen sich dann, nachdem sie mich für sich selbst zurecht konstruiert haben, so sehr von meiner Erscheinung beleidigt, dass sie mir Getränke verweigern und mir die Tür weisen.
Wenn die nur wüssten! Sie beweisen Zivilcourage, indem sie einen jüdischen Menschen rausschmeißen, weil er wie ein Neonazi aus den 90ern aussieht. Wenn das mal keine Stand-Up-Nummer ist!
Und fühlen Sie sich schon gereizt und provoziert durch diese Geschichte? Möglich. Oder doch nicht? Vielleicht sind Sie sogar einer dieser Wirtsleute gewesen …
Dann fahren wir doch fort.
Wenn die Menschen meinen leichten Akzent hören und fragen, wo ich herkomme (obwohl ich seit 30 Jahren in Deutschland lebe), werte ich das meistens als Neugier. Es liegt dann bei mir die passende Antwort zu formulieren. Eine schnippische – von Zuhause, eine aktuelle – aus Stuttgart oder eine ausführliche – ich bin in der Sowjetunion geboren.
Aber manche Leute reagieren bei dieser Frage weitaus gereizter. Sie unterstellen (schon wieder!) den anderen dabei eigentlich die unlauteren Absichten.
Mit dieser Meinung bin ich bei einem Podiumsgespräch aber auch mal in die Schusslinie zweier Kontrahentinnen geraten. „Dies ist immer eine Beleidigung“ gegen „Das ist doch bloß Neugier“. Beide Standpunkte wurden, wie es für eine politische Diskussion in Deutschland gehört, mit einem Absolutätsanspruch vertreten. Dabei lag die Wahrheit doch wie immer in der Mitte … nämlich bei mir. Bei wem denn sonst?!
Unsere Kommunikation besteht zu 80–90 Prozent aus Körpersprache und der „Tonalität“. Wird die Frage dabei abschätzig oder interessiert gestellt? Daraus lassen sich auch Schlüsse auf die Motivation der fragenden Person zurückführen.
Sie fragen sich, wie verhalte ich mich in den beschriebenen Situationen. Da handle ich nach der Maxime meiner Mutter, die sie mir eingebläut hat – beleidigt ist nur der, der beleidigt werden will.
Dabei kann aber „bewusstes“ Beleidigen natürlich als feine Waffe eingesetzt werden.
Im Theater gibt es einen Trick, um die Leute zu beleidigen, ohne dass sie beleidigt sind.
Zugegeben, das mache ich sehr gerne von der Bühne aus. Hinter der Maske einer Figur „beschimpfe“ ich die Leute und sie lachen. Wie geht es? Ganz einfach. Meine Figuren denken, sie wären klug oder klüger als das Publikum, dabei ist es genau andersrum.
Das ist auch das Phänomen des Hofnarren. Dieser Figur ist es erlaubt übergriffig zu werden, Grenzen zu überschreiten, die Wahrheit zu sagen. Wichtig ist, dass die Figur am Ende selber „auf die Schnauze fällt“.
Die Menschen haben also nicht grundsätzlich ein Problem damit beleidigt zu werden, sondern von welcher Warte aus sie beleidigt oder provoziert werden.
Leider gelingt es uns selten die Wahrheit zu sagen oder auf die Missstände hinzuweisen, ohne zu belehren.
Ich empfehle aber nicht die Lehrkeule, sondern das Florett des Narren. Allerdings sind nicht alle Menschen mit der Gnade des feinen Humors gesegnet.
Und solange Sie von den Neandertalern mit der Lehrkeule umgeben sind, hier das schmerzlindernde Mantra: Beleidigt ist nur der, der beleidigt werden will.
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Foto: Sabine Haymann