Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
C. H. Beck, 214 Seiten
Treffen sich ein Muslim, ein Christ und ein Jude … Was sich wie der Anfang eines mäßigen Witzes anhört, ist in den letzten Jahren erschreckend oft sowohl zur analytischen Prämisse politischer Diskussionen als auch um Frieden und Dialog bemühter interreligiöser Veranstaltungen mutiert. Den problematischen Folgen einer derart auf das Merkmal kulturell-religiöser Differenz reduzierten Betrachtung zwischenmenschlicher Konflikte widmet sich Amartya Sen in seinem Werk „Identität und Gewalt“. Ursprünglich bereits 2008 veröffentlicht, ist es eine Antwort auf die zu Beginn des 21. Jahrhunderts florierende Rede von einem „Kampf der Kulturen“. Die jetzt erschienene Taschenbuchausgabe hat die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an den Autoren zum Anlass und ist um ein aktuelles Nachwort ergänzt. Dabei ergänzt es andere in der jüngeren Vergangenheit erschienene wichtige Werke über die gewalttätige Ausbeutung von Zugehörigkeit, wie etwa „Gegen den Hass“ der früheren Preisträgerin Carolin Emcke oder „Kampfabsage – Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen“ von Ilija Trojanow und Ranjit Hoskoté.
Seinen Hauptgedanken bringt Sen analytisch klar und unumwunden auf den Punkt: Menschen haben stets vielfältige Identitäten und ihre Freiheit besteht darin, diesen unterschiedlichen Aspekten ihrer Identität je nach Kontext unterschiedliche Bedeutung beizumessen. Die Idee eines einzigen zentralen Identitätsmerkmals verfehlt daher nicht nur die Vielfalt von Personen, sie bedroht auch ihre Freiheit durch die gewaltvolle Zuschreibung von Identität. Denn besagter Witzanfang über die drei Mitglieder unterschiedlicher Religionen verrät uns weder etwas über andere Aspekte der Identität der drei Personen – ob sie beispielsweise Jazz oder Rock lieben, sich vegan oder omnivor ernähren, für die Rechte sexueller Minderheiten streiten oder um die „heilige Familie“ besorgt sind – noch welche Bedeutung sie diesen Aspekten beimessen. Denn wie der queere Muslim und die an die Sonderstellung der Ehe zwischen Mann und Frau glaubende Jüdin sich begegnen können, hängt nicht etwa von ihrer religiösen oder geschlechtlichen Identität ab, sondern von ihrer Bewertung dieser und anderer Identitäten. Vielleicht schätzen beide ihr geteiltes Menschsein, die vielfältige Unterschiedlichkeit von Personen oder auch die Zugehörigkeit zum selben Stadtviertel höher als die Differenzen ein – und es entsteht erst gar kein „Kampf der Kulturen“.
Das Buch liest sich in neun Kapiteln wie eine Meditation auf dieses Thema und arbeitet sich durch viele wichtige Themen, wie die Konfrontation zwischen dem „Westen“ und „Anti-Westen“ oder auch den Umgang mit dem politischen Islam. Dabei ist es jedoch kein simpler Aufruf zu Dialog und Multikulturalismus. Denn Sen vermag auch aufzuzeigen, wie wohlmeinende Verfechter*innen eines interreligiösen Dialogs in die Falle tappen, die verkürzte Identitätsdebatte zu reproduzieren, oder ein konservativ aufgefasster Multikulturalismus mit der Freiheit der Einzelnen, sich zu ihren Zugehörigkeiten zu positionieren, in Konflikt gerät. Dagegen setzt er auf die Vielfalt zivilgesellschaftlicher Stimmen in einem öffentlichen, möglichst globalen Diskurs, der auf der Freiheit und Würde der Individuen besteht.
Insbesondere in einer Zeit, in der rassistische Agitator*innen hierzulande sich auf das vermeintlich europäische Erbe der Aufklärung berufen, leistet der Autor viel damit, dass er die Identifikation liberaler Werte mit der „westlichen Kultur“ unterläuft. So wird durch anschauliche Argumentation und die Auswahl sehr unterschiedlicher Quellen greifbar, dass das Streben nach Freiheit, Toleranz und Gerechtigkeit ein Erbe der Menschheit in allen Kulturen und Religionen ist. Gegen die Vereinnahmung der Aufklärung durch rechtskonservative Ideolog*innen wird dabei klar, worin das universelle humanistische Erbe besteht: im Kampf gegen die „Illusion der Schicksalshaftigkeit“ des Zusammentreffens bestimmter Merkmale, wie beispielsweise ethnischer Zugehörigkeit und Verhalten, und in der Anerkennung der je auf vielfältige Weise verschiedenen Individuen.
Sens Werk zeigt auf sympathische und nachvollziehbare Weise, dass die Antwort auf die vielfältigen Krisen der heutigen Welt nicht in einer Konkurrenz ausschließlicher Identitäten bestehen kann und Hoffnung nur in der Einübung einer globalen Identität und Solidarität liegt. Für mit dem Thema bewanderte und am deutschen Kontext von Identitätsdebatten interessierte Leser*innen mag es nicht weitgehend genug sein und der Griff zu Emckes bereits erwähntem und im Geiste verwandten Werk „Gegen den Hass“ näherliegen. Dennoch liegt mit „Identität und Gewalt“ nun ein kurzweiliges, ungebrochen wichtiges und vor allem trotz der Komplexität der Themen zugängliches Werk im Taschenbuchformat vor. Ein Denkanstoß, der gerade für Menschen geeignet sein dürfte, denen die Unterscheidung der Menschen anhand der ihnen zugeschriebenen kulturell-religiösen Herkunft durchaus (noch) plausibel erscheint.