Die Förderung politischer Jugendbildung durch unternehmensnahe Stiftungen
transcript Verlag, 304 Seiten
Die zentrale These von Anja Hirsch in der hier vorliegenden Dissertation lautet: Die unternehmensnahen Stiftungen in Deutschland tragen mit ihrem Bildungsprogramm für benachteiligte Jugendlichen zur Aufrechterhaltung bestehender Herrschaftsverhältnisse bei. Die Autorin hinterfragt die angeblich neutrale Rolle, wie z. B. die der Bertelsmann-Stiftung, bei der Förderung sogenannter sozial benachteiligter Jugendlicher mit dem Anspruch soziale Ungleichheiten abzubauen.
Dabei geht Hirsch von einem entgrenzten Politikbegriff aus, der nicht nur die Alltagsverhältnisse der Jugendlichen thematisiert, sondern auch die Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse selbst, in denen sie leben.
In den theoretischen Grundlagen ihrer Arbeit greift die Autorin im Wesentlichen auf das Theoriegebäude des „Neomarxisten“ Antonio Gramsci zurück. So fragt dessen Hegemonietheorie danach, wie die Zustimmung der unterworfenen gesellschaftlichen Gruppen immer wieder neu hergestellt wird. Dabei geht es Hirsch in Anlehnung an Gramsci darum, wie die Herrschenden ihre Vormachtstellung sichern und fortsetzen. Dies muss nicht nur durch Zwang und Gewalt geschehen, sondern durch ein System von Institutionen und Alltagspraxen.
In diesem Zusammenhang verweist Hirsch auf das integrale Staatsverständnis Gramscis, das den Staat, die politische Gesellschaft und die Zivilgesellschaft als eins betrachtet, ganz im Gegensatz zum liberalen Staatsverständnis, das den Staat als neutral ansieht, der letztlich dem Allgemeinwohl verpflichtet ist. Hier hält die Autorin fest, dass sie die unternehmensnahen Stiftungen als Teil des erweiterten Staates versteht. Nach Hirsch sind diese Stiftungen als zivilgesellschaftliche Akteure nicht neutral, sondern verfolgen ihre eigenen Interessen und können nicht per se als gemeinwohlorientiert angesehen werden.
Anja Hirsch fordert eine Hinwendung zur Alltagspraxis als Gegenstand der politischen Bildung. Der Alltagsverstand als die Selbst- und Weltauffassung der Einzelnen werde nicht als kritischer Ausgangspunkt zur Aufdeckung von Machtinteressen genutzt. Daher bleibt für sie die politische Bildung in Herrschaftsverhältnisse verstrickt. Nach Auffassung der Autorin kann selbst die Reflexion darüber sich nicht von der Eingebundenheit in die bestehenden Verhältnisse freimachen. Aus Sicht der kritischen politischen Bildungsforschung kommt der emanzipatorische Anspruch zu kurz.
Anja Hirsch untersucht das deutsche Stiftungswesen und deren Programme zur Überprüfung ihrer Ausgangsthese und will dabei die Verflechtungen von Stiftungen und Unternehmen aufzeigen. Stiftungen nehmen Einfluss auf die politische Bildung, ohne dazu demokratisch legitimiert zu sein. Sie sind keine gewählten Institutionen, die Eigentumsverhältnisse sind häufig unklar und sie werden steuerlich subventioniert – eine insgesamt fehlende Transparenz der Stiftungen.
Am Beispiel der Robert Bosch Stiftung, mit dem Schwerpunkt der politischen Bildung für sogenannte politikferne Zielgruppen, macht die Autorin deutlich, dass gesellschaftlich kritische Themen zwar angesprochen werden, aber die Auseinandersetzung mit realen Herrschaftsverhältnissen außen vor bleibt. Mit zielgruppenadäquaten Programmen wie im Projekt Lernort Stadion der Robert Bosch Stiftung werden benachteiligte Jugendliche mit Methoden der Erlebnispädagogik, Kompetenzförderung, Ressourcenorientierung und Empowerment sowie dem Appell nach Eigenverantwortung und Aktivierung erreicht bzw. konfrontiert, aber die subjektiven und gesellschaftlichen Bedingtheiten der Jugendlichen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Damit werden Ungleichheitsverhältnisse fortgeschrieben und nicht aufgehoben. Dies sei keine kritische Demokratiebildung, so Anja Hirsch.
Die Arbeit stellt einen wichtigen Beitrag zu einem bislang offenbar wenig beachteten und erforschten Förder- und Bildungssektor dar. Die hinter den Stiftungen stehenden partikularen Interessen und Weltanschauungen müssen benannt werden. Allerdings bleibt unverständlich, warum sich die Autorin in den theoretischen Grundlagen überwiegend auf Gramsci bezieht. Beispielsweise findet sich in der gesamten Arbeit keine einzige Erwähnung von Jürgen Habermas. Er gilt als Weiterentwickler der kritischen Theorie und in einem seiner Hauptwerke, der Theorie des kommunikativen Handelns aus dem Jahr 1981, zeigt er auf, dass es der Eigensinn der kommunikativen Alltagspraxis ist, der den Systemimperativen Einhalt gebieten kann. Alltagspraxis und Alltagsverstand können Herrschaft zumindest begrenzen. Das ist doch eine Chance für die politische Bildung.
Vielleicht sind es gerade die sogenannten benachteiligten Jugendlichen, die sich durch ihre eigenwillige, alltagsweltliche Lebensführung dem System und der Herrschaft entziehen. Das Verständnis dieser Jugendlichen fällt dem mittelständischen Denken schwer.