Über den Nutzen der Philosophie für die Klimadebatte
Carl Hanser, 272 Seiten
In einer Zeit, in der die Corona-Pandemie die Politik dominiert und sich wie Mehltau auf die Weltgesellschaft gelegt hat, ruft der Philosoph und Wirtschaftsethiker Bernward Gesang in seinem neuen Buch die existentielle Bedeutung des Klimawandels in Erinnerung. Der Kampf gegen den Klimawandel ist für ihn auf Grund der Komplexität der Gegenmaßnahmen „die größte Herausforderung in der Geschichte der Menschheit“ (S. 12). Diese Komplexität erfordert eine vorbehaltslose Betrachtung, die unsere „ganze Lebensweise und das wirtschaftliche und politische Leben insgesamt prüft und ändert“ (ebd.). Bei dieser Herkulesaufgabe, bei der unklar ist, ob der winzig kleine Beitrag des Einzelnen überhaupt etwas bewirkt, kann die Philosophie – so sein Credo – „mit kühlem Kopf“ neue Perspektiven eröffnen, „wenn sie sich nicht im Elfenbeinturm einmauert, sondern sich als angewandte Ethik mit den empirischen Wissenschaften berät“ (S. 22).
Seinen Plan der „großen Transformation“, d. h., die Welt bewusst politisch und wirtschaftlich in einen nachhaltigen Zustand zu überführen, entwickelt er in fünf Kapiteln. Im 1. Kapitel stellt er das von ihm bevorzugte Konzept des Green New Deal (Dekarbonisierung des Welthandels via globalen Emissionshandel) in Abgrenzung zur Postwachstumsökonomie vor. Letztere lehnt er aus ethischen Gründen ab. Insbesondere von den Entwicklungs- und Schwellenländern kann derzeit kein Verzicht auf Wachstum oder eine Konsumverringerung gefordert werden. Im folgenden Kapitel geht es um die individuellen Beiträge zur Klimawende („Was kann ich tun?“). Auf der Mikroebene des individuellen Engagements erörtert Gesang die ethischen Fragen der Klimadebatte und zeigt auf, wie eine rationale Strategie zwischen Verzicht und Verboten, Verantwortung und Solidarität aussehen könnte. Die Methode zur ethischen Bewertung von Handlungen, die er in seinem Buch verwendet, ist der Utilitarismus. Dieser hat das Ziel, „die Summe des Wohlergehens und Glücks auf der Welt möglichst groß ausfallen zu lassen“ (S. 47). Konkret geht es darum, aus jedem Engagement und aus jedem eingesetzten Euro den größtmöglichen Nutzen für das Klima zu ziehen. Statt vorrangig über eine Änderung der Lebensweise via Konsumverringerung einen Wandel anzustreben, präferiert Gesang effiziente Spenden mit Mehrfacheffekten. „So bekämpft man mit Geld Armut und tut etwas für Menschenrechte, Klima, Bodenqualität, Wasserversorgung und Artenschutz.“ (S. 25) Durch diese Option gewinnen die Individuen Zeit für ihre eigene Umstellung des Emissionsverhaltens. Zudem kann die Überbrückungsstrategie „spende und ersetze“, die für ihn kein Ablasshandel ist, nach der „Doktrin vom großen Unterschied“ gut begründetes Handeln vor „Überforderungen und Depressionen bewahren“ (S. 97).
Die besondere Rolle von Unternehmen und Staaten beschreibt er im 3. Kapitel. Über die Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks und Spendenpflicht für Unternehmen hinaus sieht Gesang auf der Makroebene des Staates einen institutionellen Reformbedarf. In den westlichen liberalen Demokratien gibt es falsche Anreize, die Klimapolitik meist verhindern. Politiker*innen wollen wiedergewählt werden, und zukünftige Generationen können das nicht, da sie kein Stimmrecht haben. Damit die Interessen künftiger Generationen in demokratischen Entscheidungsprozessen bewahrt bleiben, schlägt er vor, auf der Ebene einzelner Bundesländer das „Pilotprojekt Zukunftsanwälte“ (S. 182) zu starten. Die Zukunftsanwälte sollen bei umweltökonomischen Fragen mit ihrem Vetorecht für Gerechtigkeit zwischen den existierenden und zukünftigen Generationen sorgen.
Anschließend spricht der Autor im 4. Kapitel einige Tabus an, „die sich in der Debatte um effizienten Klimaschutz als hinderliche Transformationsfallen entpuppen“ (S. 185). Dabei handelt es sich sowohl um Bewertungen von Technologien (grüne Gentechnik, Geoengineering) als auch um Denkweisen (wachstumsbegrenzende Bevölkerungspolitik). Seine Ausführungen schließen mit einer Schatten-Licht-Bilanz, die von der fehlenden globalen Einigkeit über ermunternde Einzelbeispiele (Dänemark) bis hin zur Energiewende von unten reicht.
Insgesamt ist die Lektüre des Buches zu empfehlen. Der Philosoph Bernward Gesang hat ein Buch für Nicht-Philosophen geschrieben, das jenseits von existentiell-dramatisierender Rhetorik und moralischem Rigorismus sich mit dem Klimawandel beschäftigt. Einige seiner Thesen und utilitaristischen Urteile, wie: „Klimaschutz darf, wenn das nicht anders geht, prinzipiell auch zulasten sozialer Gerechtigkeit gehen“ (S. 253), mag nicht jeder teilen. Sie bieten aber viel Anlass zu konstruktiven Debatten. Ebenfalls positiv hervorzuheben ist, dass seine Ausführungen nie belehrend oder missionarisch wirken, sondern eher humorvoll, da er in Analogie zu Fantasy-Romanen den Kampf gegen den Klimawandel sehr anschaulich als Ringen zwischen dunkler und heller Seite der Macht beschreibt.