Außerschulische Bildung 1/2023

Christine Zeuner/Antje Pabst: Wie Bildungsurlaub wirkt

Eine subjektwissenschaftliche Studie zu langfristigen Wirkungen von Bildungsurlaub und Bildungsfreistellung

Frankfurt am Main 2023
Wochenschau Verlag, 613 Seiten
 von Klaus-Peter Hufer

Der Bildungsurlaub für Arbeitnehmer*innen war lange Zeit politisch sehr umstritten. Aber die Aufregung in den 1970er und 1980er Jahre hat sich gelegt, Bildungsurlaubs- und Bildungsfreistellungsgesetze gibt es jetzt in 14 von 16 Bundesländern. Mit Ausnahme von Bayern und Sachsen ist es möglich, bis zu fünf Tage pro Jahr für einen Bildungsurlaub freigestellt zu werden. Anerkannt sind Veranstaltungen zur beruflichen und politischen Bildung. Das ist zweifelsohne ein wichtiges Angebot zur Erwachsenenbildung. Deswegen muss es irritieren, dass die Teilnahme sehr gering ist – in keinem der Bundesländer nutzten „jemals mehr als fünf Prozent aller Berechtigten den Bildungsurlaub/die Bildungsfreistellung“ (S. 81) – und es kaum wissenschaftliche Erkenntnisse über den Ertrag und die Wirkung solcher Angebote gibt.

Das letzte Manko behebt die voluminöse Studie von Christine Zeuner und Antje Pabst, beide lehren Erwachsenenbildung an der Helmut Schmidt Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Sie haben eine Arbeit vorgelegt, die wahrlich gigantische Ausmaße hat, und mit der sie alle erdenklichen Fragen und Aspekte zur Bedeutung und Wirkung des Bildungsurlaubs ausgeleuchtet haben. Damit haben sie einen Standard gesetzt, der wohl für die nächsten Jahre gültig sein dürfte.

Ihrer empirischen Arbeit liegen explorativ-narrative Interviews mit 25 „Mehrfachteilnehmenden“, die sich mindestens dreimal freistellen ließen, und zwei „Erstteilnehmenden“ an Bildungsveranstaltungen zugrunde. Es sind keine Output-Bemessungen, von ihnen grenzen sich Zeuner und Pabst mit guten Gründen ab (S. 37, 120, 142). Neben dieser Exploration der „Mikroebene“ werden durch Interviews Erkundungen auf der „Mesoebene“ (den Trägern und Einrichtungen) sowie der „Makroebene“ (der Bildungspolitik) eingeholt. Diese Mehrdimensionalität und Interdependenz wird am Ende des Buches zu einer „praxisorientierten Handlungstheorie“ (S. 545 ff.) zusammengeführt. Damit werden die Ursachen und Voraussetzungen deutlich, die einen Bildungsurlaub ermöglichen.

Die Untersuchung konzentriert sich auf Veranstaltungen im Rahmen der Bildungsurlaubs-/Bildungsfreistellungsgesetze von Hamburg und Rheinland-Pfalz. Dabei werden Antworten auf die folgende Forschungsfrage gesucht: „Welche langfristigen, subjektiven (bildungs-)biographischen Wirkungen und Effekte hat die Mehrfachteilnahme an Veranstaltungen der politischen und/oder beruflichen Bildung im Rahmen von Bildungsfreistellungsgesetzen?“ (S. 31, kursiv im Original). Dezidiert erforschen die Autorinnen die Wirkungen der Veranstaltungen „vom Standpunkt der Subjekte aus“ (ebd.).

Die Analyse wird unterfüttert mit Bezügen zur kritischen Bildungstheorie (S. 43–47) und zur subjektwissenschaftlichen und transformativen Lerntheorie (S. 43–51, S. 51–57). Sehr ergiebig ist die Darstellung der Genese der Bildungsurlaubs- und Bildungsfreistellungsgesetze sowie die Konflikte um sie (S. 62–85). Die vorliegenden Forschungen (S. 86–118) werden rezipiert, wobei die Ergebnisse als „defizitär“ (S. 116) sowie ohne großen Aussagewert „über realisierte Wirkungen“ (ebd. Kursiv im Original) bewertet werden.

Der größte Teil der Studie besteht aus einer differenzierten Einordnung der Interviews, die jeweils passagenweise zitiert werden. Damit wird der Text authentisch und lebendig. Die über mehrere hundert Seiten gehende Wiedergabe und Reflexion kann hier nicht angemessen zusammenfassend dargestellt werden. Stellvertretend für viele aufschlussreiche Äußerungen sei das Fazit eines Teilnehmenden zitiert: „… man selber nimmt vielleicht in gewisser Weise eine andere Sichtweise der Welt ein und das verändert viel.“ (S. 384, kursiv im Original) Genau das ist ein zentrales Ziel politischer Bildung.

Insofern können Zeuner und Pabst eine Bilanz ziehen, die Mut macht, die Veranstaltungen zum Bildungsurlaub weiter auszubauen. Denn: sie können „als Impulsgeber für lebensentfaltende Lern- und Bildungsprozesse gelten. (…) Die Teilnahme an Veranstaltungen des Bildungsurlaubs/der Bildungsfreistellung eröffnet den Subjekten vielfältige individuelle, politische, zivilgesellschaftliche und berufliche Handlungsmöglichkeiten (…) Im günstigen Fall trägt die Teilnahme (…) für die Subjekte zur Orientierung und dem Denken in gesellschaftlichen Zusammenhängen bei, zu gesellschaftlichem Handeln sowie zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der subjektiven Lebensqualität.“ (S. 552, kursiv im Original).

Wer sich in die akribisch systematisierte Breite und Tiefe der Studie hineinbegibt, der/die wird mit erhellenden Erkenntnissen aus der Praxis dieses wichtigen und oft unterschätzten Bildungsbereichs belohnt. Und endlich liegt wieder eine gediegene wissenschaftliche Erforschung der Praxis politischer Erwachsenenbildung vor. Vor allem: Wirkungsforschung ist möglich!

Klaus-Peter Hufer, Dr. rer. pol. phil. habil., ist außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Erwachsenenbildung, Bildungspolitik, Rechtextremismus, Zivilcourage.