Außerschulische Bildung 1/2021

Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft

Der Armutsforscher und Politikdidaktiker Christoph Butterwegge, der dem Gutachtergremium der Bundesregierung für den 6. Armuts- und Reichtumsbericht angehört, hat jüngst – unter Corona-Bedingungen – seine großen Studien zur „Krise und Zukunft des Sozialstaats“ (2005) und über die „Zerrissene Republik“ (2020) fortgeschrieben. Bei der Neuerscheinung handelt es sich um eine knappe Einführung, die in einem ersten Kapitel begriffliche, theoretische und methodische Grundlagen präsentiert, um dann in einem zweiten den Befund der „Klassengesellschaft“ anhand klassischer (Karl Marx, Max Weber) wie neuerer Theorien (Elitenherrschaft, Abstiegsgesellschaft) zu präzisieren. Im dritten Kapitel geht es um die Klassenverhältnisse in der heutigen globalisierten Marktwirtschaft, während das vierte und letzte die aktuellen Erscheinungsformen von Ungleichheit thematisiert und dabei im Kontext der Coronakrise ausführlich die Bereiche Gesundheit, Bildung und Wohnung diskutiert. Entstehungsursachen und daraus abzuleitende Lösungsansätze sollen in einem Folgeband behandelt werden. Dort wird dann das Thema „Umverteilung“ eine besondere Rolle spielen, wobei der Autor gleich ankündigt, dass verteilungspolitische Maßnahmen nicht ausreichen werden, „wenn die Reproduktion der sozioökonomischen Ungleichheit dauerhaft unterbunden werden soll“ (S. 8).

Auf die sozioökonomische Grundlage, also auf die durch das Wirtschaftssystem gegebene prinzipielle Verschiedenartigkeit von Einkommen und Vermögen bei der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung auf der einen Seite, bei den Privateigentümern von Produktionsmitteln (oder Grund und Boden) auf der anderen Seite, fokussiert Butterwegges Kritik der Ungleichheit. Es geht ihm nicht um eine Skalierung quantitativer Abstufungen, die sich dann – wie in der empirischen Armutsforschung verbreitet – unter Einsatz verschiedenster Parameter messen lassen. Im Anschluss an die Marxsche Theorie erinnert er vielmehr an den Gegensatz, in dem Kapitaleinkommen und Lohnarbeit stehen. Wer über Kapital verfügt, hat nicht einfach etwas mehr von dem Stoff, den alle zum Leben benötigen, sondern eine Machtposition über die Arbeit: „Vermögen wirkt reichtumsfördernd und -erhaltend zugleich. Lohn und Gehalt kann hingegen schlagartig entfallen, wenn die Einkommensquelle mit dem Arbeitsplatz oder dem eigenen (Klein-)Unternehmen (…) versiegt.“ (S. 22 f.)

Entscheidend ist hier, dass die Einkommensquelle Lohnarbeit einen Dienst am Kapitalreichtum leistet und a priori zu leisten hat, denn nur unter dieser Bedingung, dass ihre Anwendung rentabel ist, wird ja ein Arbeitsplatz geschaffen. Dass Einkommensquellen versiegen können, ist übrigens ein Schicksal, das in der heutzutage durchgesetzten globalen Konkurrenz allen Wirtschaftsakteuren droht; nicht nur kleine Unternehmer, sondern auch große Vermögen können im Fall des Falles Schaden nehmen. Wer aber Vermögen im nennenswerten Sinne besitzt, also über eine Geldsumme verfügt, die als Kapital fungiert und damit fremde Arbeit in Dienst zu nehmen vermag, hat die Möglichkeit, die Armut der anderen als sein Bereicherungsmittel einzusetzen. Dass dies keine Möglichkeit bleibt, sondern im modernen „digitalen Finanzmarktkapitalismus“ in einer Extremform verwirklicht ist, in der wenige „transnationale Kapitalorganisatoren“ sich einen Hyperreichtum aneignen, während Millionen Menschen in absoluter Armut leben, führt Butterwegge im dritten Kapitel aus (vgl. S. 122 f.).

Die letzten 50 Seiten liefern eine erste wissenschaftliche Analyse der sozialen Lage unter den neuen Bedingungen staatlicher Seuchenbekämpfung – mit Schwerpunkt auf den Verhältnissen in der Bundesrepublik. Butterwegges Durchgang durch die sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen kommt zu dem Schluss, dass die von Ökonomen wie etwa Thomas Piketty vertretene These, globale Krisenlagen hätten eine egalisierende Wirkung, gegenwärtig nicht zutrifft. „Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg“ werde vielmehr erkennbar, „dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit aller Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.“ (S. 141 f.) Wie unter einem Brennglas zeigen sich also in der Krisenlage lauter Befunde, die nach der Analyse des Autors den grundlegenden Klassencharakter dieser Gesellschaft deutlich machen.