Außerschulische Bildung 1/2021

Max Czollek: Gegenwartsbewältigung

Max Czolleks politischer Essay „Desintegriert Euch“ war 2018 eines der meist diskutierten politischen Sachbücher. Darin kritisiert er, dass der Integrationsdiskurs, verbunden mit entsprechenden Rollenzuschreibungen an Juden*Jüdinnen und Menschen of Color, aus einem kulturell dominanten Zentrum kein adäquates politisches Konzept für eine vielfältige Gesellschaft sei.

Der Autor zeigt nun mit seiner zweiten politischen Streitschrift auf, wie stark immer noch völkische Denkweisen in der sogenannten bürgerlichen Mitte der deutschen Gesellschaft etabliert sind.

Rechtsterroristische Anschläge wie in Hanau und Halle, der NSU, eine völkische Partei im Bundestag, rechtsextreme Vorfälle im staatlichen Sicherheitsapparat und die extreme Zunahme von antisemitischen und rassistischen Verschwörungserzählungen – sie alle kommen nicht aus dem Nichts – auch nicht, dass sich große Teile der Gesellschaft immer noch schwertun, die Realität einer postmigrantischen Gesellschaft zu akzeptieren, dass es bis heute keine Chancengleichheit gibt, wenn es um Herkunft geht, und Institutionen gleich welcher Art selten diversitätsorientiert aufgestellt sind. Immer noch herrscht eine zutiefst gefährliche binäre Denklogik, die einteilt in ein „Wir“, der so selbstverständlich Dazugehörigen, und „die Anderen“, die nicht-weißen, nicht christlichen Menschen mit oder ohne Migrationsgeschichte.

Czollek greift gleich zu Beginn auf, dass solch ein Denken zu einer „beschränkten Solidarität“ (S. 12) führt. Dies lässt sich an der COVID 19-Epidemie sehr gut beobachten: Wenn plötzlich auch nicht-marginalisierte Menschen in Gefahr sind, kann die Gesellschaft mit bisher unvorstellbaren Maßnahmen reagieren. Aber für Geflüchtete an den Grenzen Europas oder Menschen, die von Rassismus- und/oder Antisemitismus betroffen sind, gilt diese enorme gesellschaftliche Solidarität nicht. Ganz im Gegenteil: Es wird nicht alles in Bewegung gesetzt, was eigentlich von staatlicher Seite möglich wäre.

Der Lyriker und promovierte Politikwissenschaftler Czollek plädiert daher dafür, dass es neue politische Konzepte braucht, die einer Gesellschaft der Vielen gerecht werden und der rechten Bedrohung etwas entgegensetzen kann. Doch dafür braucht es eine umfassende „Vergangenheitsbewältigung“ (S. 16) in einem postnationalsozialistischen Deutschland. Dem steht insbesondere die dominante deutsche Erzählung entgegen, dass eine völkische Ideologie mit der Niederlage des nationalsozialistischen Staates plötzlich verschwand. In den folgenden Kapiteln zeigt Czollek anhand von aktuell geführten Diskursen rund um die Begriffe „Heimat“ und „Leitkultur“, was er mit den weit verbreiteten und bisher unaufgearbeiteten völkischen Denkweisen bei gesellschaftlichen Gruppen meint, die sich meistens selbst als gebildet, liberal, demokratisch und auf dem Grundgesetzt stehend beschreiben würden.