Außerschulische Bildung 1/2021

Max Czollek: Gegenwartsbewältigung

München 2020
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 208 Seiten
 von Narmada Saraswati

Max Czolleks politischer Essay „Desintegriert Euch“ war 2018 eines der meist diskutierten politischen Sachbücher. Darin kritisiert er, dass der Integrationsdiskurs, verbunden mit entsprechenden Rollenzuschreibungen an Juden*Jüdinnen und Menschen of Color, aus einem kulturell dominanten Zentrum kein adäquates politisches Konzept für eine vielfältige Gesellschaft sei.

Der Autor zeigt nun mit seiner zweiten politischen Streitschrift auf, wie stark immer noch völkische Denkweisen in der sogenannten bürgerlichen Mitte der deutschen Gesellschaft etabliert sind.

Rechtsterroristische Anschläge wie in Hanau und Halle, der NSU, eine völkische Partei im Bundestag, rechtsextreme Vorfälle im staatlichen Sicherheitsapparat und die extreme Zunahme von antisemitischen und rassistischen Verschwörungserzählungen – sie alle kommen nicht aus dem Nichts – auch nicht, dass sich große Teile der Gesellschaft immer noch schwertun, die Realität einer postmigrantischen Gesellschaft zu akzeptieren, dass es bis heute keine Chancengleichheit gibt, wenn es um Herkunft geht, und Institutionen gleich welcher Art selten diversitätsorientiert aufgestellt sind. Immer noch herrscht eine zutiefst gefährliche binäre Denklogik, die einteilt in ein „Wir“, der so selbstverständlich Dazugehörigen, und „die Anderen“, die nicht-weißen, nicht christlichen Menschen mit oder ohne Migrationsgeschichte.

Czollek greift gleich zu Beginn auf, dass solch ein Denken zu einer „beschränkten Solidarität“ (S. 12) führt. Dies lässt sich an der COVID 19-Epidemie sehr gut beobachten: Wenn plötzlich auch nicht-marginalisierte Menschen in Gefahr sind, kann die Gesellschaft mit bisher unvorstellbaren Maßnahmen reagieren. Aber für Geflüchtete an den Grenzen Europas oder Menschen, die von Rassismus- und/oder Antisemitismus betroffen sind, gilt diese enorme gesellschaftliche Solidarität nicht. Ganz im Gegenteil: Es wird nicht alles in Bewegung gesetzt, was eigentlich von staatlicher Seite möglich wäre.

Der Lyriker und promovierte Politikwissenschaftler Czollek plädiert daher dafür, dass es neue politische Konzepte braucht, die einer Gesellschaft der Vielen gerecht werden und der rechten Bedrohung etwas entgegensetzen kann. Doch dafür braucht es eine umfassende „Vergangenheitsbewältigung“ (S. 16) in einem postnationalsozialistischen Deutschland. Dem steht insbesondere die dominante deutsche Erzählung entgegen, dass eine völkische Ideologie mit der Niederlage des nationalsozialistischen Staates plötzlich verschwand. In den folgenden Kapiteln zeigt Czollek anhand von aktuell geführten Diskursen rund um die Begriffe „Heimat“ und „Leitkultur“, was er mit den weit verbreiteten und bisher unaufgearbeiteten völkischen Denkweisen bei gesellschaftlichen Gruppen meint, die sich meistens selbst als gebildet, liberal, demokratisch und auf dem Grundgesetzt stehend beschreiben würden.

Dabei widmet Czollek auch dem Kunst- und Kulturbereich ein eigenes Kapitel. Auch hier konstatiert er große Defizite, was die Vergangenheitsbewältigung betrifft, nicht nur mit Blick auf den (Nicht-)Umgang mit jüdischen Autor*innen und Künstler*innen nach 1945. Auch die bis heute konstante Weigerung, insbesondere auch von Akademiker*innen und Literat*innen, diskriminierende Begriffe aus dem Nationalsozialismus und der deutschen Kolonialgeschichte nicht mehr zu verwenden. Eine Stunde Null gab es auch hier nicht.

Wie auch schon in „Desintegriert Euch!“ geht der Autor auf die Rolle der symbolischen Juden und Muslim*innen in der Gesellschaft ein. Beide dienen auf sehr unterschiedliche Weise dem Bild eines geläuterten, guten Deutschlands. Ein Anti-Antisemitismus sei angeblich Teil einer deutschen Leitkultur und die „richtigen“ Deutschen müssen nun die Juden vor den antisemitischen Muslim*innen schützen. Statistiken, die zeigen, dass die meisten antisemitischen Gewalttaten von rechten Deutschen ausgehen, werden dabei gnadenlos verdrängt.

Auch die „Hufeisentheorie“, bei der es um die höchst problematische Gleichsetzung von rechts und links geht, so Czollek, führt dazu, dass die scheinbar gute bürgerliche Mitte verkennt, dass die große reale Bedrohung für die plurale Demokratie von völkischem Gedankengut ausgeht und nicht von antirassistischen Linken.

Erste Schritte und politische Ansätze, um der Realität von Gesellschaft und einer wehrhaften Demokratie gerecht zu werden, benennt der Autor mit einem „postmigrantischen Antifaschismus“ (S. 158): die Auseinandersetzung mit verschiedenen Diskriminierungsformen und das Einüben eines „Verbündet-Seins“ (S. 160).

Das Buch liefert einen äußerst wichtigen Blick auf die politische Gesamtlage der deutschen Gesellschaft. Politische Bildung, die eng verknüpft mit den Demokratisierungsprozessen nach 1945 ist, muss sich zwingend mit den vielen Leerstellen in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Auch in der politischen Bildung braucht es mehr Perspektiven und Konzepte, die Diversität als Normalität und nicht als Herausforderung begreift. In diesem Sinne regt der politische Essay zu einem intensiven Nachdenken an, was es bedarf um eine plurale Demokratie zu schützen und politische Bildung in einer Gesellschaft der Vielen weiterzuentwickeln.