Außerschulische Bildung 3/2021

Ijeoma Oluo: Das Land der weißen Männer

Eine Abrechnung mit Amerika

Noch nie wurde in Deutschland so viel über Rassismus diskutiert und gestritten. Der Mord an George Floyd am 25. Mai 2020, aus afro-amerikanischer Sicht ein polizeilicher Gewaltakt unter vielen, löste in Deutschland eine bis dahin nie gekannte Aufmerksamkeit und Solidarität aus: Eine Black-Lives-Matter-Demo in Stuttgart mit über 2.000 Teilnehmenden – wer hätte das sich noch vor fünf Jahren vorstellen können? Etwas ist geplatzt – spät – aber es ist geplatzt: Deutschland entdeckt seinen strukturellen Rassismus, sucht, will verstehen, ist verwirrt, wehrt sich – und hat eine öffentliche Debatte. Aus der Vielzahl von Publikationen zum Thema Rassismus, die derzeit auf dem Markt sind, sind hier zwei herausgegriffen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die genau deshalb einzeln aber auch als Doppelpack zur Lektüre zu empfehlen sind.

Ijeoma Oluo, eine Schwarze Autorin, die mit „dem Land der weißen mittelmäßigen Männer“ abrechnet. Der Klappentext verspricht eine „radikale Neuschreibung der Geschichte der USA“ – das stimmt nur bedingt. Der rote Faden ist nicht die chronologische Geschichtsschreibung, sondern die Strukturen des Rassismus, die an ausgewählten historischen Beispielen aufgezeigt werden. Sie analysiert die Rolle des „Cowboys“ anhand der Buffalo-Bill-Wildwest-Show. Sie beschreibt die Migration Schwarzer von den Süd- in die Nordstaaten und räumt mit der Idee auf, im Norden gäbe es damals wie heute weniger Rassismus. Sie zieht gegen die weiße linke Elite ins Feld und nimmt als Beispiel Joe Biden, der in den 70er Jahren als Gouverneur gegen das „Busing“ (den gesellschaftlich sehr kontrovers diskutierten Transport Schwarzer Kinder in mehrheitlich von weißen Kindern besuchte Schulen, um der Segregation entgegenzuwirken) stimmte. Sie beschreibt, wie die „Bernie-Bros“, die treuesten Anhänger von Bernie Sanders, die Rassismus-Frage völlig mit der Klassenfrage überdecken und damit unsichtbar machen. Eliten-Ausbildung und Hochschulen werden unter die Lupe genommen. Der Schwarze Körper im Football wird analysiert und historisch eingeordnet. Die Erzählung ist nicht linear, der Stil ist direkt, persönlich, parteiisch, manchmal zynisch. Ausdrücke wie „frauenfeindliches Arschlochverhalten“ (S. 66) gehören dazu, wie die Feststellung, dass sich bei den sogenannten sozialistischen Feministen Eastman und Dell, sich schlussendlich doch alles „um ihre Schwänze (drehte)“ (S. 74). Für ein „Ja, aber …“ ist kein Platz. Es ist nicht mal Platz für eine Differenzierung zwischen weißen Frauen und Menschen of Color: Mehrmals nennt sie beide Gruppen in ihrer Diskriminierungserfahrung gegenüber weißen Männern in einem Atemzug – das schreit im Sinne der Intersektionalität, Oluo bezieht sich u. a. auch auf Kimberlé Cranshaw, nach Differenzierung: Keine Chance, es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Darstellung in Schwarz-Weiß. Jörg Häntzschel von der Süddeutschen Zeitung rezensiert äußerst kritisch: „ein überschießender Monolog von jemanden, der nicht nur sein Manuskript, sondern auch seine Uhr vergessen hat“ (SZ, 7. Mai 2021, S. 12).

Jedes andere Geschichtsbuch hätte ich spätestens jetzt beiseitegelegt. Doch es geht nicht um mich. Es geht darum, wenigstens in Ansätzen zu verstehen, woher diese Wut kommt, dass eine gebildete Intellektuelle wie Oluo, nicht (mehr?) nett und ausgewogen ist – vielleicht sein kann. Das versteht man, wenn man Robin DiAngelos Buch liest, eine weiße Soziologin und Diversity-Trainerin. Letzteres ist wichtig, denn sie holt mich da ab, wo ich stehe – als weiße, deutsche, linksliberale Mittelstandsfrau. Ihr Fokus ist die Empfindlichkeit weißer Menschen, wenn sie auf Rassismus angesprochen werden. Der Klassiker: „(Was auch immer ich gesagt habe) – ich bin doch nicht rassistisch. Meine besten Freunde kommen aus Ghana!“ White fragility nennt sie diese Reaktion, die ihr wie ein Automatismus regelmäßig in ihren Seminaren begegnet. Sie geht der weißen Fragilität auf den Grund mit einer Mischung aus historischem und soziologischem Fachwissen auf der einen Seite und ihren Seminarerfahrungen auf der anderen. Wie bei Oluo lernt die Leserin auf diese Weise zunächst ungemein viel über die Geschichte von Afro-Amerikaner*innen und ihre Sicht auf Geschichte und Gesellschaft. Gemein ist beiden Autorinnen auch der Fokus auf das aufgeklärte linksliberale Bürgertum: sei es als staatstragende Elite wie Biden oder Sanders oder als Seminarteilnehmende, die viel über Rassismus lernen wollen, aber jede Eigenverantwortung am System abstreiten. Bei dem Buch von Robin DiAngelo „Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein“ (Hamburg 2020, Hoffmann und Campe, 222 Seiten) wird die Leserin aber zusätzlich als Lernende angesprochen. Gleich im Vorwort zur deutsch-sprachigen Ausgabe gibt sie praktische Anwendungstipps: „… ersetzen Sie ,Afroamerikaner‘ durch ,Migranten‘ … fragen Sie nicht ,Trifft es hier zu?‘, sondern ,Wie trifft es hier zu?‘“ (S. 17) DiAngelo erklärt historisch gelernte Verhaltensweisen und Wahrnehmungen von Schwarzen: Warum „Haare“ auch als Kompliment eine delikate Angelegenheit sind – weil sie Schwarze immer als nicht-dazugehörig markiert haben. Oder was „Tränen weißer Frauen“ aus Schwarzer Sicht bedeuten – im schlimmsten Fall Lynchmord. Ihre Praxis-Beispiele kommen aus der Seminar-Welt: Kommunikationsverhalten in der Gruppe – wer ergreift das erste Wort? Wer nimmt wieviel Redezeit in Anspruch? Wer steht im Mittelpunkt und muss getröstet werden, wenn Konflikte aufbrechen? Sie stellt fest – hier der Bezug zu Oluo –, dass bei einem persönlichen Thema wie Rassismus unvermeidlich aufbrechenden Konflikten von Weißen unmittelbar die Meta-Ebene gesucht wird: Der Tonfall war nicht angemessen, der Rahmen nicht richtig – und überhaupt, Kollegin XY ist doch nicht rassistisch! Das Setting, der Tonfall ist nie richtig, um das Thema anzusprechen – aus Sicht von Oluo kann man es dann auch sein lassen.