Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit
C.H. Beck, 278 Seiten
Auch die Schreckenserfahrung des Holocaust und die Entnazifizierung nach dem Ende der Naziherrschaft haben den Antisemitismus in Deutschland nie wirklich verschwinden lassen. Verschweigen, Verheimlichen und Verdrängen blieb vielfach die Devise. Und leider ist der Antisemitismus in den letzten Jahren wieder deutlich sichtbarer und deutlich gefährlicher geworden. Das verlangt nach vermehrter politischer Wachsamkeit und nach einem Nachdenken über neue pädagogische und politische Strategien, wie man dem Übel beikommt.
In ihrem Buch „Diagnose: Judenhass“ sezieren die beiden Fachpublizisten Eva Gruberová und Helmut Zeller das komplexe Erscheinungsbild des heutigen Antisemitismus in gründlicher und sehr umfassender Weise. Es handelt sich allerdings nicht um eine wissenschaftliche Studie, sondern vielmehr um ein Panorama von Reportagen, die tief in die dunklen Zonen und Tiefenschichten der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik führen.
Mit dieser Erwartungshaltung sollte man an das sehr emotional aufrüttelnde Buch herangehen. Systematische Aufarbeitungen von Statistiken und Zahlen werden kaum vorgenommen oder werden manchmal recht subjektiv präsentiert. Aber darum geht es auch nicht. Vielmehr sollen die verschiedenen Erscheinungsformen und Verkleidungen antisemitischer Haltungen plastisch veranschaulicht werden. Durch Interviews, Tatortbesichtigungen, geschichtliche Rückblenden und auch Schilderungen von positiven Initiativen gegen Antisemitismus entsteht so etwas wie ein Sittengemälde, in dem jeder erkennen kann, welche besorgniserregenden Tendenzen in der deutschen Gesellschaft – oft verborgen – schlummern.
Verborgen: Ja, Antisemitismus tritt oft mehr oder minder krude verschleiert auf. Rechts im politischen Spektrum, wenn etwa aus AfD-Kreisen eine Geschichtspolitik der „Grautöne“ (S. 37) gepriesen wird, die nationalsozialistischen Verbrechen durch die Aufzählung (kaum vergleichbarer) politischer Verbrechen relativiert. Und eher links verortet: Die pro-palästinensische Organisation BDS, die sich in Sachen Existenzrecht Israels hinter Formulierungen verstecke, die „absichtlich vage“ seien (S. 163). Das, zusammen mit den Verdrängungsmechanismen, die die deutsche, keinesfalls mehrheitlich antisemitische, aber oft gleichgültige Gesellschaft bestimmen, macht die Analyse des Problems schwieriger.
Der fast anekdotische Ansatz der Autoren ist in dieser Hinsicht hilfreich, ermöglicht er doch, dieses facettenreiche Bild des Antisemitismus ausgesprochen plastisch und empathisch darzustellen. Dabei bleibt kaum ein Teil des politischen Spektrums verschont. Die historischen Wurzeln des eher rechten Antisemitismus verbanden sich oft mit antikommunistischer Gesinnung; der Antisemitismus der Linken, so zeigen die Autoren, ging oft mit groben antikapitalistischen Thesen („jüdisches Finanzkapital“) einher (S. 135). Nichts erklärt die bizarre Irrationalität des Antisemitismus so gut wie diese seltsam widersprüchlichen Projektionen verschiedener Lager.
Der zunehmenden Radikalisierung rechter Gewalttäter folgt auch die Schilderung der Genese des oft nur notdürftig als Anti-Israelismus getarnten Antisemitismus in der Neuen Linken seit den späten 60er Jahren (S. 136 ff.). Auch der Antisemitismus von jungen arabisch-muslimischen Flüchtlingen habe, so die Autoren „ein hohes Maß“ (S. 77) erreicht, wobei die Autoren zurecht vor einer „scheinheiligen“ (S. 74) Instrumentalisierung warnen, wie sie etwa die AfD betreibe – aber nicht nur sie.
Die etwas anekdotische Struktur des Buches erhöht die Lesbarkeit deutlich, und am Ende erst merkt man, wieviel historisches, soziologisches und politisches Wissen man tatsächlich fast unbemerkt vermittelt bekommen hat.
Seinen pädagogischen Wert erhält das Buch auch dadurch, dass in den Interviews die Perspektive in Deutschland lebender Juden durchscheint. Das Ziel ist es, Empathie zu wecken. Es ist im Sinne des didaktischen Anliegens sehr wirkungsvoll, wenn man bei der Lektüre gezwungen ist, sich etwa in die Lage von jüdischen Jugendlichen zu versetzen, die sich in einer Art „Belagerungszustand“ befinden. Empfehlungen für eine Erneuerung der Denkmalskultur und vor allem des entsprechenden Geschichtsunterrichts runden das Buch ab, das vielleicht manchmal sehr pointiert und kampfeslustig argumentiert, aber den Leser/die Leserin ausgesprochen breit informiert und bewegt zurücklässt. Als Einstiegslektüre zum Thema Antisemitismus in Deutschland ist das Buch sehr zu empfehlen.