Außerschulische Bildung 4/2021

Eva von Redecker: Revolution für das Leben

Philosophie der neuen Protestformen

Frankfurt am Main 2020
S. Fischer Verlag, 320 Seiten
 von Joel Wardenga

Häufig werden gesellschaftliche Missstände unserer Zeit – wie Rassismus, soziale Ungleichheit, Gewalt gegen Frauen und Umweltzerstörung – isoliert voneinander diskutiert. Eva von Redecker legt mit „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“ nun ein Werk vor, das in bester philosophischer Manier Zusammenhänge zwischen den unsere Welt bedrohenden politischen Herausforderungen aufzeigt, deren Geschichte erzählt und in einem stimmigen Gesamtbild vereint.

Dabei setzt sie auf erfrischende Weise bei den politischen Protestbewegungen der letzten Jahre an, in denen sie etwas genuin Neues ausmacht: Während frühere emanzipatorische Kämpfe vor allem die gleichberechtigte Teilhabe an bürgerlichen Rechten forderten, geht es den Klima-Rebell*innen von Fridays for Future und Extinction Rebellion, den Aktivist*innen der Black Lives Matter-Bewegung wie auch den neuen Frauen*-Bewegungen um den Schutz von Leben. Dieses Leben fassen die Aktivist*innen allerdings nicht mehr individualistisch auf. Denn gerade das Wissen um den notwendigen Zusammenhang von Leben, das kollektiver Pflege bedarf, wie auch der zunehmenden Zerstörung von Leben durch dessen Ausbeutung ist ihre gemeinsame Basis. Kurzum: Sie alle eint die Erfahrung, immer schlechter oder schon heute keine Luft mehr zu bekommen, und damit das Wissen um die ungleich verteilte Verletzlichkeit von Leben. Ein Wissen, für das die letzten Worte des von einem Polizisten ermordeten George Floyd „I can‘t breathe“ zum schrecklichen Symbol geworden sind.

Das Buch geht daher an vielen Stellen unter die Haut. Schwer greifbares und auch schwer zu ertragendes vermag die Autorin dabei in sinnliche Bilder zu übersetzen und ihren Leser*innen nahezubringen. So bleibt es hängen, wenn sie globale Veränderungen wie die Freisetzung von CO2 und Methan-Gasen in alltäglichen Erfahrungen zu fassen sucht und somit die Vorstellungskraft befeuert, darüber nachzudenken, was „die Klimaveränderung für das Leben auf der Erde bedeutet. (In einer dreckigen Wasserlache stehend, mit Asche auf der Haut Sauerkrautgestank einatmen, während uns die Sonne durchs Gewächshausdach das Haupt versengt?)“ (S. 94)

Solche Bilder werden bei der Lektüre allerdings nicht zu bloßen Erschütterungen, sondern zum Ausgangspunkt für neue Perspektiven auf unsere Probleme. So wirft die Autorin nur selten gestellte Fragen auf – wie zum Beispiel die, was Eigentum bedeutet. Was verstehen wir heute eigentlich gesellschaftlich darunter, etwas zu besitzen? Wenn Unternehmen ganze Landstriche verwüsten und Ressourcen extrahieren, an wenige Einzelne den Profit verteilen und dann nicht für die Folgeschäden aufkommen müssen, dann macht auch hier die Antwort zunächst betroffen: Wir leben mit einer politisch verbrieften Eigentumsauffassung, die das Recht zu missbrauchen beinhaltet, ein Recht, willkürlich über das Besessene zu verfügen und es auszubeuten.

Von der Vergegenwärtigung der so legitimierten Zerstörung und einer ungetrübten Perspektive auf deren Ursachen werden die Leser*innen dann aber stets auch zu konkreten Handlungsmöglichkeiten geleitet. Denn den weltzerstörenden Praktiken – wie eben beispielsweise der uneingeschränkten „Sachherrschaft“ über Natur und Arbeitskraft – stellt sie stets ein anderes, pflegendes Verhältnis zur Welt gegenüber. Diese Alternativen findet sie in den zeitgenössischen politischen Bewegungen, die die Möglichkeit einer Veränderung der Welt sichtbar machen. Diese Bewegungen überzeugen dadurch, dass ihr revolutionäres Ziel zugleich ihre Methode ist: Denn „eine Welt, in der wir pflegen, statt zu beherrschen, teilen, statt zu verwerten, regenerieren, statt zu erschöpfen, und retten, statt zu zerstören“ (S. 287) kann nur durch ein Handeln verwirklicht werden, das diese Grundsätze schon heute Wirklichkeit werden lässt.

Die politische Bildungsarbeit kann dieses Werk in vielerlei Hinsicht bereichern. Politisches Handeln und politische Identitäten können nur durch Erzählungen nachhaltig begründet werden, die auf die Frage nach dem großen Ganzen Antworten zu geben vermögen, auf das uns die einzelnen Ereignisse stets verweisen. Die „Philosophie der neuen Protestformen“ bietet hierfür zahlreiche Inspirationen anhand ganz aktueller Ereignisse. Zudem ist das Werk eine Herausforderung, sich auf kreative und radikale Weise mit großen Fragen auseinanderzusetzen. Die Einladung zu einer „Revolution für das Leben“ fordert zudem durch ihre Überzeugung heraus, dass ein wahrhaft politisches Denken nur dann möglich ist, wenn „Sorge und Solidarität den Umweg über die Dinge der Welt nehmen. Man bejaht sich nicht nur wechselseitig und in seinem menschlichen Wesen, man bejaht sich als Teil einer Welt.“ (S. 276) Konkret stellt es der politischen Bildung damit die Aufgabe, mit jungen Menschen die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Themen politischer Bildung zu ergründen, und so das geteilte Interesse an einer gemeinsamen Welt als Grundlage politischen Handelns in den Blick zu bekommen.

Joel Wardenga ist freischaffender Philosoph und Referent für politische Bildung. Sein Fokus liegt auf der Sensibilisierung für Diskriminierungsformen und dem Nachdenken darüber, was Pluralismus und Demokratie konkret bedeuten.