Außerschulische Bildung 4/2020

Everhard Holtmann (Hrsg.): Umdeutung der Demokratie

Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland

Frankfurt/New York 2019
Campus Verlag, 374 Seiten
 von Klaus Waldmann

Die Demokratie ist elementar auf die Unterstützung durch Bürger*innen angewiesen. Die Zufriedenheit damit, wie die Demokratie funktioniert, und die Einstellung zur Demokratie als System sind wichtige Gradmesser für Anerkennung und Legitimation demokratischer politischer Systeme. Nach den Landtagswahlen zwischen 2015 und 2017 sowie der Bundestagswahl 2017 hat der Arbeitsstab für die neuen Bundesländer im Bundeswirtschaftsministerium eine Gruppe um den Hallenser Politikwissenschaftler Everhard Holtmann beauftragt, in einer Studie Formen politischer Partizipation in Ost- und Westdeutschland zu untersuchen.

Die Studie wurde zwischen 2017 und 2019 durchgeführt. Leitende Fragestellung war, ob das unterschiedliche Wahlverhalten in Ost und West verschiedenen Motivlagen entspricht und ob sich jenseits der Wahlergebnisse im Bereich der politischen Partizipation in Ostdeutschland Einstellungen und Verhaltensmuster identifizieren lassen, die sich von denjenigen in Westdeutschland unterscheiden.

In sieben unterschiedlich umfangreichen Kapiteln werden Indikatoren der Untersuchung begründet, politikwissenschaftliche Bezugsmodelle sowie Ergebnisse präsentiert und erläutert. Äußerst hilfreich für die Arbeit mit der Studie ist, dass nach jedem Kapitel jeweils ein Zwischenergebnis formuliert wird, das die Essentials aus Sicht der Autor*innen festhält.

Die Analyse von Kommentaren in Zeitungen zu Wahlergebnissen in Ostdeutschland, zeigt, dass das Wahlverhalten mit den Motiven der Unzufriedenheit, fehlender Bürgernähe und dem Gefühl, auf politischer Ebene nicht hinreichend repräsentiert zu sein, erklärt wird. Im Längsschnitt sehen die Autor*innen der Studie durchaus konvergente Tendenzen der politischen Partizipation in Ost und West. Für den Osten wird allerdings ein größeres Responsivitätsdefizit (Offenheit der Politik für Interessen, Wahrnehmung und Anerkennung von Anregungen) und ein geringeres Vertrauen in Regierung, Parteien und Politik festgestellt. In Ostdeutschland äußern sich im Jahr 2018 mit 20,3 % nur etwa halb so viele Menschen wie im Westen mit 38,5 % (S. 126) als zufrieden mit der Demokratie, wie sie bei uns funktioniert. Allerdings wird die Demokratie als Idee von 90 % im Westen und von 85 % im Osten befürwortet.

Die Autorengruppe interpretiert diese Unterschiede vor dem Hintergrund der These des doppelten Transformationsschocks. Der erste ist mit den krisenhaften Prozessen nach der Vereinigung insbesondere im Wirtschaftssystem in Ostdeutschland verbunden, der zweite Schock ist durch die Finanzkrise 2008/2009 ausgelöst. Nach einem mühsamen Prozess der Stabilisierung stellte die Krise des Finanzsystems das Erreichte in Frage und weckt Angst vor Verlusten. Sozialstaatliche Leistungen minderten dieses Gefühl, doch spätestens mit dem enormen Anstieg der Zuwanderung 2015/2016 seien die Ängste und Befürchtungen im politischen Raum (z. B. durch Pegida und Zustimmung zur AfD) öffentlich geworden. Deutlich wird, dass insbesondere von Bürger*innen im Osten die Daseinsvorsorge als zentrale Aufgabe der Politik betrachtet wird. Im Vordergrund ständen Wünsche nach Sicherheit und Gerechtigkeit. Mit 51 % haben überdurchschnittlich viele Ostdeutsche den Eindruck, dass es im Land „nicht gerecht zugeht“ und 40 % der Ostdeutschen sind der Meinung, dass sie weniger als ihren gerechten Anteil erhielten.

Besonders interessant zur Erklärung der Bereitschaft zur politischen Partizipation ist ein Kapitel zu den Effekten des Lebensumfelds für die Beteiligung. Die These ist, dass Anreize für politische Aktivitäten aus dem lokalen Umfeld kommen oder dort auf Hemmnisse treffen. Für eine lebensweltorientierte politische Bildung sind hier viele Anregungen zu gewinnen. Problematisiert wird in der Studie auch, dass es in Ostdeutschland kaum intermediäre Organisationen gibt, die Meinungen und Interessen bündeln können. Darin sehen die Autor*innen die Vorstellung der Bürger*innen begründet, sich unmittelbar an die Politik wenden zu müssen oder die Erwartung verankert, dass die Politiker*innen direkt mit ihnen kommunizieren müssen. „Umdeutung“ der Demokratie bedeutet, dass Ostdeutsche die Wahl nutzen, um Ärger, Protest und Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, eher als zu einer regierungsfähigen Mehrheit im Parlament beizutragen.

In der Studie werden zahlreiche weitere Faktoren (Umbruchs- und Transformationserfahrungen, Relevanz von Gemeindetypen oder der Mediennutzung) betrachtet, die Einfluss auf die politische Partizipation haben, die in dieser Rezension nicht ausführlicher gewürdigt werden können. Die Studie ist eine Fundgrube an Erkenntnissen zur Erklärung politischen Engagements, von Protest oder Nichtwahl. Beim Lesen ist allerdings etwas Geduld erforderlich, um die zahlreichen Indikatoren in ihren Wechselverhältnissen und die identifizierten Unterschiede in ihrer Differenziertheit einordnen zu können.