Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs
wbg THEISS, Die Gesellschaft der Anderen, 286 Seiten
Das Buch der Osteuropahistorikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina „Offene Wunden Osteuropas“ erschien am 28. April 2022, dem diesjährigen Yom HaShoa. Es enthält neun Berichte über Reisen nach Warszawa, Lwiw, Babyn Jar, Minsk und Malyj Trostenez, Stalingrad, Leningrad, Wilna/Vilnius, die drei Dörfer Chatyn (nicht zu verwechseln mit Katyn), Pirćiupiś und Korjukiwka, Bełźec und Majdanek. Die Autorinnen sprachen mit Zeitzeug*innen, werteten Tagebücher und Archive aus, besuchten Friedhöfe und Gedenkstätten.
Einleitung und Schlusskapitel des Buches haben die Autorinnen nach dem 24. Februar 2022 aktualisiert. Putins Überfall auf die Ukraine verändert Sichtweisen. Putin rechtfertigt seinen Krieg mit dem Großen Vaterländischen Krieg. „Für manche Ukrainerinnen und Ukrainer war der sowjetische Sieg gegen den deutschen Faschismus eine Verbindung zu Russland. Der gemeinsame Mythos des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ dürfte nun der Vergangenheit angehören.“ (S. 8)
Der Zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg. Die Rote Armee befreite und sie besetzte. Jüdinnen und Juden litten zwischen den Fronten. Wer sich in die Welt der bereisten Orte vertieft, sieht schnell, wie falsch die geschichtsrevisionistische Vision Putins ist, mit der er am 22. Februar 2022 – wie schon in früheren Reden und Aufsätzen – seinen Anspruch auf die Ukraine und nicht nur auf diese vor der Weltöffentlichkeit begründete. Am 22. April 2022 war in den deutschen Medien eine Karte zu sehen, die seinen Anspruch auf die gesamte Schwarzmeerküste dokumentierte, einschließlich Transnistriens. Was bedeutet dies für die Ostseeküste zwischen St. Petersburg und Kaliningrad?
Die Autorinnen dokumentieren staatliche, interessegeleitete Versuche und Strategien, bestimmte Erinnerungen zu kodifizieren, andere auszuschließen. An jedem Erinnerungsort konkurrieren Erzählungen. Welchen Mythen, welchen Legenden, welchen Voids begegnen wir? Was geschah in Leningrad, in Stalingrad, im Wilner Ghetto, in den beiden Warschauer Aufständen, die so oft miteinander verwechselt werden? Welches Erbe schufen Stalinismus und der Zerfall des sowjetischen Imperiums? An welchen Widerstand erinnern sich die Menschen in Polen, Litauen, Belarus, in der Ukraine, in Russland? Wer befreite wo wen von wem?
Zu all diesen Fragen bietet das Buch Einblicke, Analysen, Debatten. Zentral ist in allen Reisen die Shoah. Die Shoah, das waren nicht nur die Vernichtungslager, das waren auch die vielen Erschießungsstätten, an denen Wehrmacht und SS, oft unter Mithilfe einheimischer Hilfstruppen, Menschen erschossen, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren, der „Holocaust by bullets“. Die Mörder mordeten Jüdinnen und Juden, sie mordeten wahllos Menschen, die ihnen im Wege standen, deren Leben sie als unwert erachteten. Sie vernichteten ganze Dörfer, so Chatyn, Pirćiupiś und Karjukiwka, verschleppten Menschen in die Zwangsarbeit, in der viele unter den unmenschlichen Bedingungen starben.
Wie unterschiedlich Erinnerungen gepflegt oder dekretiert werden, zeigt der Mythos Stalingrad. In sowjetischer und post-sowjetischer Erinnerung dominiert „beispielloser Heroismus der Sowjetsoldaten“, in deutscher Erinnerung das „Massensterben der deutschen Soldaten“. „Doch in beiden Erinnerungskulturen stehen die zivilen Opfer des Krieges im Schatten dieser Märtyrer.“ (S. 138) In der deutschen Erinnerung dominiert der Winter, in der russischen Erinnerung dominieren die von der deutschen Luftwaffe gelegten Brände. Konsalik-Romane und Landser-Hefte prägen die deutsche Erinnerung an Stalingrad, selbst bei denen, die diese nie gelesen haben. Sie vermitteln eine „militärische Rechtfertigungslegende“, mit „exotisierenden Diskurse(n) von asiatischer Barbarei und zivilisatorischer Rückständigkeit“, die deutschen Soldaten sind Opfer (S. 145). Ebenso widersprüchlich wirken Erinnerungslegenden beispielsweise in und um Litauen, in und um Leningrad.
Die beiden Autorinnen sprechen offen über ihre Großeltern, sie fragen nach dem Sinn von Erinnerung. Sie zitieren Joan Didion (1934–2021) mit dem programmatischen Satz in „The White Album“: „Wir erzählen uns selbst Geschichten, um zu leben.“ (S. 136) Kein Name soll ausgelöscht werden, die Opfer leben in unseren Erinnerungen, die Namen der Täter*innen mögen uns mahnen. Kann Erinnerung Gerechtigkeit schaffen? „Eine gemeinsame ‚europäische Erinnerung‘ ist kaum mehr als ein politischer Wunsch.“ (S. 28) Stattdessen: „Erinnern ist oft gerade kein Mittel zur Befriedung zwischenstaatlicher Spannungen, eher im Gegenteil: Erinnerung wird als Munition in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen missbraucht oder propagandistisch ausgeschlachtet. Am gefährlichsten ist es, wenn Geschichte zur Waffe in diktatorischen Regimen wird wie derzeit in Putins Russland.“ (S. 26)