Zum kritischen Umgang mit politischen Gefühlen
„Gefühlte Wahrheiten“ sind in den aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten omnipräsent. Von Stammtischreden bis zu Beiträgen in öffentlich-rechtlichen Leitmedien, werden „Stimmungen aufgegriffen“ oder politische Entscheidungen werden mit „Das fühlt sich nicht richtig an“ eingeordnet. Unbenommen der Tatsache, dass gerade an den politischen Rändern Gefühle manipuliert werden, lassen sich Emotionen in Politik und gesellschaftlichem Zusammenleben nicht ignorieren. Politiker*innen erfahren schmerzlich, was es heißt, Gefühle in der Bevölkerung zu übergehen. In Trainings zum Umgang mit rechten Parolen lernen die Teilnehmenden u. a., dass man Menschen nicht mit nüchternen Zahlen überzeugen kann, sondern ihre Gefühle der Entfremdung, Überforderung, Angst o. Ä. ernst nimmt.
In diesem Kontext liefert Frederik Metje mit seiner Dissertation einen theoretischen Rahmen. Seine Arbeit schafft einen interdisziplinären Bezug zu bestehenden Theorien zu „Kritiken der Gefühle“ aus Soziologie, Politikwissenschaft, Neurobiologie, Psychologie, Sprach- und Literaturwissenschaft, Gender Studies, Philosophie und Ethik von der Antike bis heute. Er ergänzt diese durch eigene Ansätze und präsentiert einen Ausblick, wie diese theoretische Grundlage für empirische und praxis-orientierte Forschung zum Umgang mit Gefühlen z. B. in der politischen Bildung genutzt werden kann. „Kritiken der Gefühle“ bezeichnet dabei sowohl die Kritik an Gefühlen (Gefühle werden als Objekt bewertet oder eingeordnet) als auch umgekehrt: Gefühle bewerten als Subjekt, zum Beispiel eine Situation oder Entscheidung.
Metje analysiert vertieft die Arbeiten des Sozialphilosophen Michael Walzer, der Soziologin Eva Illouz, des Journalisten und Soziologen Didier Eribon, des Philosophen Brian Massumi, der Feministin und Sozialtheoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick und der Politikwissenschaftlerin Brigitte Bargetz. Alle diese Autor*innen gehen grundsätzlich von einem Zusammenspiel von Gefühlen und politischem Handeln aus und betrachten Gefühle nicht als einen zu eliminierenden Störfaktor, sondern als neutralen Faktor, den man je nach Kontext positiv oder negativ bewerten kann. Metje unterzieht alle sechs Wissenschaftler*innen dem gleichen Set an Fragen, filtert Gemeinsamkeiten und besondere Anregungen für sein eigenes Denken heraus und formuliert auf dieser Basis vier Impulse. Im ersten Impuls – Gefühlstheoretische Involviertheit – manifestiert er, dass biografische Betroffenheit wie z. B. bei Eric Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ eine befruchtende Grundlage für wissenschaftliche Theorieentwicklung sein kann, vorausgesetzt, dass kritisch mit ihr umgegangen wird. Beim Impuls zu den Immanenzverhältnissen geht es um das Zusammenspiel des beeinflussenden sozialen, politischen oder historischen Kontextes, der bestimmte Gefühle im individuellen Handlungsspielraum hervorruft. Um den/die Einzelne nicht aus der Verantwortung zu entlassen, ihre Entscheidungen selbst zu treffen, gleichzeitig aber die prägenden Umstände, in denen ein Mensch lebt, nicht zu ignorieren, formuliert Metje ein Zusammenspiel beider Ebenen. Im Impuls zur Zeitlichkeit plädiert er für ein hohes Maß an Sensibilität hinsichtlich der „gegenwärtigen Gefühlerfahrung, ihrer historischen Genese und ihrer zukünftigen Veränderbarkeit“ (S. 170). Obwohl zusammenhängend, können alle drei Zeitspannen ganz unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Im vierten Impuls zur Konzeptionellen Offenheit fasst Metje nochmals zusammen, was den Text wie ein roter Faden durchzieht: Offenheit sowohl in Bezug auf die Vielfalt von Gefühlen als auch in den kritischen Umgangsweisen mit ihnen. Methodische Ansätze müssen konsistent sein, es gibt aber keine Blaupause.
Mit drei Techniken schlägt der Autor am Ende die Brücke, wie in der Praxis der Selbst-Bildung mit politischen Gefühlen umgegangen werden kann: Wie bin ich zu den Gefühlen gekommen (aktives Untersuchen)? Was passiert, wenn ich mich bewusst in eine normabweichende Situation begebe (aktives Experimentieren mit Verhaltensformen)? Was passiert, wenn ich eine Gefühlssituation wertfrei betrachte und annehme (passives Öffnen)? Alle drei Techniken können zu didaktischen Konzepten der politischen Bildung im Umgang mit politischen Gefühlen ausgearbeitet werden.