Europa zwischen Partnerschaft und Konfrontation
Im Klappentext heißt es „Gerhard Stahl beschreibt die Veränderungen der chinesischen Gesellschaft. Er skizziert das chinesische Geschichtsverständnis, den wirtschaftlichen und politischen Alltag sowie Vorstellungen chinesischer Geschäftspartner über das moderne China. Er schildert die innovative Dynamik der Metropolen und gleichzeitig die ländliche Armut (…): Entwicklungsland und Hochtechnologiestandort, Sozialismus und Marktwirtschaft, weltoffen und nationalistisch.“ – Viel Programm für 170 Seiten Text. So beschleicht den Leser im ersten, historisch-systempolitischen Teil des Buches das Gefühl, von allem etwas serviert zu bekommen, in Anekdoten erzählt, aber bei weitem nicht in der ganzen Komplexität dargestellt. Wenn der Ökonom aber seine Expertise ausleben kann, nimmt das Buch an Fahrt auf. Schließlich war der Autor in verschiedensten Positionen der Wirtschaftspolitik tätig, z. B. als stellvertretender Kabinettschef für den EU-Wirtschaftskommissar, und ist seit 2014 Hochschullehrer in der chinesischen Wirtschaftsmetropole Shenzhen.
Mit diesem Blick widmet sich Stahl dem Weg Chinas von der Werkbank der Welt zum Technologiezentrum, in dem im Jahr 2020 umgerechnet 372 Milliarden US-Dollar, 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, für Forschung und Entwicklung ausgegeben wurden. China ist führend bei internationalen Patenten, verfolgt ein ambitioniertes Raumfahrtprogramm, beherbergt mit Tencent einen Weltmarktführer der Digitalökonomie und hat unter dem Label Made in China 2025 einen Strategieplan zur Marktführerschaft chinesischer Unternehmen vorgelegt.
Das geht einher mit kleinen wie großen Wirtschaftsreformen: Emissionshandel, radikale Energiewende, Naturschutz, Wohlstandswachstum, Verbesserung von Arbeitsbedingungen oder die Regulierung von Internetriesen. Stahl zeigt in der Folge einerseits am Beispiel des Bauträgers Evergrande auf, wie schwierig sich die Umsetzung von Wirtschaftsreformen in einem autoritären politischen System gestaltet; andererseits zeigt das Beispiel Huawei, wie sich chinesische Groß- und Digitalunternehmen auf internationalen Märkten behaupten. Erläutert wird die Initiative Neue Seidenstraße, für die weit mehr als nur der wirtschaftliche Fokus bedeutsam ist: „Für Chinas politische Planer gehört Wirtschaft und Politik immer zusammen. Deshalb war auch die Neue Seidenstraße nur als eine umfassende Strategie denkbar.“ (S. 100)
Wie internationale Wirtschaftsbeziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik verschränkt sind, wird in Buchteil drei erkennbar, in dem sich Stahl auch dem US-chinesischen Gegensatz widmet. Ende Mai 2022 äußerte Außenminister Blinken Bedenken, dass China als einziges Land der Welt die internationale Ordnung verändern könne, das auch beabsichtige und somit in einen ideologischen Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie eintrete. Stahl wiederum lässt Henry Kissinger antworten: „Der Aufstieg Chinas (…) spiegelt vor allem eine nachlassende amerikanische Wettbewerbsfähigkeit wider, die sich in einer überholten Infrastruktur, ungenügenden Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen und einem anscheinend dysfunktionalen Regierungsprozess ausdrückt.“ (S. 131) Vor dem Hintergrund eines aufziehenden Handelskrieges, der unsicheren Menschenrechtslage und dem möglichen Zugriff auf Taiwan wirkt die Volksrepublik wie ein nicht überwindbarer Kraftprotz. Dennoch könne die Feststellung, dass China Frieden, Wohlstand und Freiheit der internationalen Gemeinschaft gefährde, so nicht stehen gelassen werden. China betreibe keine ideologische, sondern eine interessensorientierte Politik. Schwerpunkt bleibe „noch für mehrere Jahrzehnte die wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität des eigenen Landes“ (S. 158). Konflikte entstünden aus der schieren Größe dieses Landes, das – wie alle anderen – zuerst auf sich schaue.