Theorie – Praxis – Berufsfelder
utb/Narr Francke Attempto Verlag, 238 Seiten
Christian Kuchler: Lernort Auschwitz
Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980–2019
Wallstein Verlag, 275 Seiten
Auschwitz ist ein Erinnerungsort, der Name fungiert aber inzwischen weltweit auch als ein Synonym und eine politisch-moralische Kategorisierung für ein monströses Verbrechen. Angesichts des Booms an Gedenkstättenseminaren, in Deutschland nochmal gesteigert durch die KJP-Förderungen der letzten Jahre, hat sich die Gedenkstätte in Auschwitz zu einer nicht nur international massenhaft besuchten, sondern inzwischen auch mit pädagogischen und politischen Erwartungen überfrachteten und dementsprechend von Seminar-Gruppen überlaufenen Einrichtung entwickelt, die jährlich mehr als 2 Millionen Besucher verkraften muss. Man kann sich vorstellen, dass die Besucherfülle differenzierte und nachhaltig angelegte pädagogische Arrangements und Absichten immer mehr einschränkt.
Nun gibt es ja nicht nur Auschwitz, sondern im In- und europäischen Ausland viele andere Gedenkstätten und Lernorte, die für Zwecke des historisch-politischen Lernens intensiv erschlossen werden können. Habbo Knoch, heute Professor für Neuere Geschichte in Köln und davor Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten sowie Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, hat nun eine kompakte, äußerst kundige und lesenswerte Einführung in die Aufgaben, Arbeitsweisen und Nutzungsperspektiven von Gedenkstätten verfasst. Das Buch umfasst fünf Kapitel, die mit Definitionen, Grundbegriffe, Entwicklungen, Themen und Praxis überschrieben sind, am Schluss gibt es wichtige Weblinks und ein Ortsregister. Jedes Kapitel endet mit weiterführenden Literaturverweisen. Im Mittelpunkt seiner Erörterungen stehen Gedenkstätten, die sich dem Themenfeld Nationalsozialismus widmen. Knoch bezieht aber auch die Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur ein und versucht ansatzweise die neueren Entwicklungen in Europa und in der weltweiten Erinnerungs- und Diskurskultur nachzuverfolgen. Gerade bei den letzteren Themenstellungen stehen viele Untersuchungen und Diskurse erst am Anfang, der vergleichende und differenzierende Einbezug von Kolonialverbrechen etwa oder die Frage der weiteren Nationalisierung oder Europäisierung der Gedächtnisse.
Das Selbstverständnis und Aufgabenspektrum von Gedenkstätten hat sich im Lauf der Jahrzehnte erheblich gewandelt. Ging es in den frühen Anfängen, in den 1980er und 1990er Jahren, manchmal auch in sehr plakativer Weise, um das Mahnen, Erinnern und das Aufbrechen des öffentlichen Schweigens, so sind diese Einrichtungen heute Museen, Archive, Forschungszentren, Beratungsstellen und vor allem Bildungsstätten, und soweit sie ein hauptberufliches Team haben, in jeder Hinsicht professionell arbeitende Einrichtungen. Oft, aber nicht immer, sind Gedenkstätten an historischen Schauplätzen, häufig an Orten von Verbrechen, errichtet worden. Sie sollen daher Zeugnis geben und als gegenständliche Quellen funktionieren, eine Aura vermitteln und authentisch wirken und damit die Glaubwürdigkeit historischer und politischer Botschaften unterstreichen und verstärken. Dies soll Gedenkstätten legitimieren und stellt doch ein Problem dar, denn was ist eigentlich heute noch „echt“ an den dinglichen Resten z. B. eines ehemaligen Konzentrationslagers? Habbo Knoch spricht von räumlichen Palimpsesten, also von Orten, die mehrfach überschrieben sind. Diese Orte haben verschiedenen Zwecken gedient, bergen eine Vor- und Nachgeschichte und sind in ihrem heutigen Erscheinungsbild oftmals Rekonstruktionen. Die „Authentizität“ muss also dekonstruiert werden, ohne aber damit ihre historische Botschaft zu delegitimieren. Sachzeugnisse und materielle Spuren sind weiterhin wichtig, sie haben für Besuchsgruppen einen beglaubigenden Effekt, wegen dem die Gedenkstätte überhaupt erst aufgesucht wird.
Die Formen der Musealisierung haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert und weiterentwickelt. Waren es in den Anfängen oft Tafeln mit einer düsteren politischen Schwarz-Weiß-Ästhetik, die an Totenklagen erinnern, so haben wir es heute oft mit erlebnisorientierten und emotionalisierenden Medienwelten zu tun. Besonders auffällig ist das zum Beispiel beim Museum des Warschauer Aufstandes in der polnischen Hauptstadt. Dazwischen liegen natürlich ganz verschiedene Selbstverständnisse, Konzepte und damit korrespondierende thematische Fokussierungen: auf bestimmte Opfergruppen, Täterkollektive, Zeitphasen, Ideologien u. a. m.
Bei allen Unterschieden und auch Streitpunkten, eines kann nicht mehr ignoriert werden: dass Gedenkstätten Lernorte sind. Sie machen eigene Angebote mit ihren pädagogischen Abteilungen, werden von Schulen, Jugend- und Erwachsenenbildungseinrichtungen genutzt und von der Politik mit hohen Erwartungen konfrontiert.
Habbo Knoch kennzeichnet die teilweise widersprüchlichen Erfahrungsdimensionen und die Komplexität einer Gedenkstättenveranstaltung als eine „Mischung aus Konformitätsdruck und diffusen Gefühlen, normativen Lernzielen und sozial erwünschten Verhaltens- und Redeformen“ (S. 143). Was soll aber gelernt werden? Unter den Gedenkstättenfachleuten scheint sich eher ein Ansatz etabliert zu haben, der auf Wissen, Reflexion und exemplarische Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Quellen zielt. Dieses eher rationale und reduktionistische Konzept wird oft kontrastiert von den Wünschen der Politik, Jugendliche politisch gegen Extremismus zu imprägnieren, und den Wünschen der Schulen und ihres Personals, Jugendlichen ein emotionales Erlebnis zu ermöglichen. Nicht nur die allgemeine Erwartungsvielfalt ist also, wie Knoch auch zeigt, sehr groß und differierend. Auch das Publikum von Gedenkstättenveranstaltungen kommt mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Geschichten und Deutungsmustern, die zu dekonstruieren, aufeinander zu beziehen und einer rationalen Deutung zuzuführen eine sehr anspruchsvolle pädagogische Aufgabe ist. Das muss man nicht selten den Erwartungen von Lehrer*innen entgegenhalten, die glauben, man müsse die Schülerschaft nur an der Pforte abgeben und diese hätte dann ein politisches und historisches Erweckungserlebnis.
Aber was wird in Gedenkstätten „wirklich“ gelernt? Christian Kuchler, Historiker und Professor für die Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWHT Aachen, hat in seinem Buch „Lernort Auschwitz“ nicht nur versucht, die Geschichte von Gedenkstättenfahrten seit den 1960er Jahren zu rekapitulieren, sondern anhand von verschiedenen Quellenbeständen vor allem über schulische Projekte Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz zu evaluieren. Dies tut er anhand von Berichten, manchmal sind es auch Reisetagebücher, die Schüler*innen und das begleitende pädagogische Personal verfasst haben. Erforderlich waren solche Berichte in der Vergangenheit aufgrund von Förderungen vor allem durch die Robert-Bosch-Stiftung, das Deutsch-Polnische Jugendwerk und die Stiftung „Erinnern ermöglichen“ (Bethe-Stiftung). Daneben spielt natürlich auch noch Aktion Sühnezeichen eine wichtige Rolle. Heute erfolgen Förderungen meist über den Kinder- und Jugendplan des Bundes und der Länder und die dafür vorhandenen Zentralstellen, z. B. das IBB in Dortmund. Fast immer federführend dabei waren außerschulische Einrichtungen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, was aber leider in der Studie kaum erwähnt wird.
Es ist kein einfaches Unterfangen, solche auch den Zwecken einer nachträglichen Kontrolle dienenden, heterogenen, subjektiven und oftmals „banal“ erscheinenden Berichte zu ordnen und zu interpretieren. Auch das macht Kuchlers Studie verdienstvoll. Aus den mannigfachen Beobachtungen und Erkenntnissen können nur wenige Aspekte herausgriffen werden. Als ein wichtiges Merkmal nachträglicher Erinnerung des Besuches der Gedenkstätte wird von der „emotionalen Ergriffenheit im Angesicht des Schauplatzes der Verbrechen“ (S. 203) berichtet.
Eine Brechung scheinbar authentischer Ortserfahrungen durch Quellenarbeit wird eher selten projektiert. Auch sieht Kuchler wenig Erweiterung von historischem Wissen im Sinne von Daten und Fakten durch den Besuch von Auschwitz, das scheint immer eher noch Aufgabe des vorbereitenden Unterrichts zu sein.
Eigenständige Erkundungen vor Ort werden wohl kaum praktiziert, vielmehr sind die „Inhalte und Wege (…) vom staatlichen Museum vorgegeben“ (S. 237). Die Führungen durch das Personal der pädagogischen Abteilungen des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau werden von Kuchler als „gelenkt“ bezeichnet, pädagogische Spielräume für Abschweifungen sind wohl kaum vorhanden. Eine zentrale Rolle spielen in den Reflexionen der Schüler*innen verschiedene Ängste und Emotionen. Sie fühlen sich sofort als „Deutsche“ angesprochen und als Nachfahren einer Tätergeneration verunsichert. Gleichzeitig werden aber nach Kuchler die Fragen der Täterschaft selten eingehend behandelt. Polnische und andere internationale Perspektiven und Narrative auf Auschwitz bleiben in der Regel vom Veranstaltungsgeschehen ausgeklammert. Bedenklich ist auch die Beobachtung, dass es offenbar bei den Gedenkstättenseminaren eine zunehmend perfektionierte Ritualisierung und Austarierung der Gedenkformen (S. 237) gibt.
Die Untersuchung von Kuchler endet mit sieben Vorschlägen für die Gestaltung von Gedenkstättenfahrten, die nicht wirklich neu, aber dennoch sehr wichtig sind. Dazu zählt der Vorschlag, vielleicht auch andere Gedenkstätten in Polen und Deutschland aufzusuchen, die mehr pädagogische Gestaltungsmöglichkeiten erlauben. Dass Ängste und Emotionen in sinnvoller Weise thematisiert und für das Lernen fruchtbar gemacht werden und sich nicht nur in der Betrachtung des früheren grauenvollen Geschehens erschöpfen sollten, ist auch einsichtig. Natürlich bleibt der historische Ort im Mittelpunkt, aber die Lehr-/Lernhandlungen sollten methodisch erweitert werden. Ganz zentral bleibt ebenfalls, dass durch Vor- und Nachbereitung ein Gedenkstättenbesuch als Teil eines breiter angelegten Untersuchungs- und Verstehensprozesses der NS-Geschichte angelegt sein sollte.
Schulische und außerschulische Seminarveranstaltungen in Gedenkstätten dürfen aber nicht als Kopie der zunehmend in der Sprache und der Form des Auftretens standardisierten offiziellen Erinnerungskultur inszeniert werden. Auf die Unterscheidung von Erinnern und Gedenken und kritischer Geschichtsreflexion sollte wieder öfter hingewiesen werden.
Zu bedauern ist, dass wieder einmal die außerschulische politische Bildung, die eine durchaus bedeutende Rolle in dem Feld spielt, wenig beachtet wird. Beide hier vorgestellten Publikationen sind trotzdem uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen.