Außerschulische Bildung 2/2024

Harry Friebel: An den Nationalsozialismus erinnern

Entwicklung der Erinnerungskultur und zukünftige Perspektiven. Ein Essay

Harry Friebel legt mit seinem Essay eine Diskussionsgrundlage für eine mulitperspektivische, reflexive Erinnerungskultur vor. Dabei stört er die etablierte deutsch-perspektivistische, hegemoniale Erinnerungskultur, die Max Czollek mit „Versöhnungstheater“ ebenso, aber im eigenen Stil, treffend beschrieben hat. Die Einleitung beginnt Friebel damit, dass das „Nie wieder“ – das Mantra der deutschen Erinnerungskultur – die Realität und Kontinuität des Antisemitismus verkennt. Als Beleg werden die Schüsse auf die Türen der Synagogen in Halle und Essen (2019, 2022) angeführt. Diese Anschläge und weitere zahlreiche Anschlägen nach 1945 werden in eine Linie mit der politischen Machtübernahme der NSDAP im Jahr 1933 gesetzt. Die Einordnung der Anschläge in Essen und Halle auf jüdische Menschen werden mit Zitaten von Schalwa Chemsuraschwilli, Steffen Greiner und Debora Antmann vorgenommen. Dies kommt nicht von ungefähr. Die Stimmen von Jüdinnen und Juden und kritischen Personen aus Wissenschaft und Gesellschaft werden im Essay auf vielfältige Weise gehört und sichtbar gemacht. Der Einbezug verschiedener Perspektiven in der Erinnerungskultur, entgegen der Dominanz der Täter*innen-Perspektive, führt nach Friebel erst zu einer Veränderung von Gegenwart und Zukunft. Der Ansatz wird in der Einleitung dargelegt: „Ich beschäftige mich mit beiden Fragen in eigener systematischer Absicht – ohne dabei auch nur andeutungsweise einen generalisierenden Interpretationsansatz zu beanspruchen. Im Zentrum meiner Überlegung steht der Aspekt der Vergangenheitsvergegenwärtigung im Hinblick auf die frühere („was war?“), die gegenwärtige („was ist?“) und die zukünftige („was wird?“) NS-Erinnerungskultur in Deutschland.“ (S. 10)

In Kapitel 2 „Vom Straßenterror zum Staatsterror und Krieg“ werden zwei zentrale Aspekte des NS-Staats beleuchtet: die Euthanasie-Krankenmorde und die Gleichschaltung. Diese Aspekte werden mit der ideologisch geschlossenen Volksgemeinschaft in Zusammenhang gebracht. Auch wenn wir uns im Text beim „was war?“ befinden, wird der Gegenwartsbezug durch Diversität/Individualität, sowie Dekonstruktion von Geschlechterrollen als Gegenentwurf zur Nazi-Ideologie angeführt.

Durch das dritte Hauptkapitel erhalten wir einen Einblick in das Konzept der „Gefühlserbschaften“. Hierfür wird die empirische sozial-psychologische Studie von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall herangezogen. In Interviews von drei Generationen von Familien mit NS-Hintergrund ergaben sich folgende Merkmale: Eine positivistisch-verklärende Sicht auf die unerschütterlichen Werte der (Groß-)Eltern. Durch diese Verklärung werden u. a. unspektakuläre Details als Widerstandshandlungen konstruiert und aufgebauscht und die Großeltern/Eltern von Verantwortung entkoppelt.

In Kapitel 4 werden „Gefühlserbschaften“ genauer erläutert. Dabei geht es um das immaterielle Vererben noch verleugneter/verdrängter Geschehnisse, sowohl bei Opfern als auch bei Täter*innen, was die psychoanalytische Forschung auch als „Postmemory“ bezeichnet. Belegt werden die Gefühlserbschaften anhand von je zwei Personen aus einer Täter*innenfamilie (und zwei Personen aus Opferfamilien); aus verschiedenen Publikationen von Harry Friebel zusammengetragen. Hier belegen die Geschichten der Personen mit Nazi-Hintergrund, wie eine Fortschreibung der Geschichte aus Täter*innenperspektive, das von Umdeutung und „monströsen Schweigen“ (S. 64) profitiert, gebrochen werden kann. Die Berichte von Tatjana Schmidt und Alexander Nachama zeugen demgegenüber von einem sehr bewussten Umgang mit den Erlebnissen im und nach dem Nationalsozialismus in der jüdischen Familie, auch wenn es dabei um Gräueltaten ging. Friebel stellt nach Vorstellung der Familienbiografien die These auf, dass die Familien mit Opferperspektive eine stärkere Bindung aufweisen, wohingegen bei Täter*innenfamilien das Vererben von Scham und verdrängter Schuld zu ständiger Fragilität der Loyalität führen muss. Dem gegenüberstehende „Grenzfälle“ belegen, wie eine neue Information über die Taten der Vorfahren das familiäre Erinnerungskartenhaus zum Einsturz bringen kann.