Außerschulische Bildung 1/2020

Heidi Behrens/Norbert Reichling: „Ich war ein seltener Fall“

Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka

Essen 2018
Klartext Verlag, 240 Seiten
 von Detmar Doering

Man darf sich das Morden der Nazis nicht als eine einfache gradlinig wütende Maschinerie vorstellen. Es evolvierte nicht-linear und ließ immer neuer und unberechenbarer Willkür Raum. Für die Opfer machte dies die Sache noch viel fürchterlicher und unvorstellbarer. Der Spruch, dass der Tod eines Menschen eine Tragödie, aber der von Millionen bloße Statistik sei, gewinnt hier einen Sinn. Man kann die Grauen des Nationalsozialismus nur verstehen, wenn man auch versteht, was dies alles für ein Einzelschicksal bedeutete und welchen geradezu unerklärbaren Gewalten die Opfer ausgesetzt waren.

Bei der Vermittlung des Themas in Schulunterricht und Erwachsenenbildung sollte man dies stets berücksichtigen. Dass sich als Autor*innen des Buches „Ich war ein seltener Fall“ zwei Erwachsenenbildner*innen zusammengesetzt haben, um das Schicksal der Essenerin Helene („Leni“) Zytnicka, geb. Mantwill, zu schildern, ist daher schon von vornherein ein vielversprechender Ansatz.

Das Buch gehört dem Genre der „Oral History“ an, d. h. die Autor*innen haben Leni Zytnicka, die 2007 im stolzen Alter von 103 Jahren starb, zwischen den Jahren 2000 und 2003 mehrfach lange interviewt und die Gespräche aufgezeichnet. Die langen Interviewpassagen werden durch Überleitungen, Kontextualisierungen, Kommentare und Dokumente ergänzt, sodass sich am Ende ein mehr oder minder kohärentes Narrativ ergibt. Und das ist in der Tat dramatisch.

Die Protagonistin, die aus einer Essener Arbeiterfamilie stammte, heiratete 1926 den polnischen Juden David Zytnicka. So wie sie es schildert, bereitete es zu diesem Zeitpunkt niemandem Probleme, dass sie dadurch die polnische Staatsangehörigkeit übernahm (und die deutsche verlor) und freiwillig für ihren Mann zum Judentum konvertierte und später ihre gemeinsame Tochter auf eine jüdische Schule schickte.

Selbst die Machtergreifung der Nazis 1933 scheint zwar Ängste zu wecken, aber zunächst noch wenig Konsequenzen mit sich zu bringen. Das ändert sich im Herbst 1938 als die Familie plötzlich als „Ostjuden“ nach Polen abgeschoben wird, wo sie in einer von Abgeschobenen überfüllten Kleinstadt untergebracht werden. Neun Monate verbringt die Familie dort, während derer sich David Zytnicka auch bei jüdischen Hilfsorganisationen engagiert. Immerhin sind sie hier zunächst sicher, was sich mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen dramatisch ändert.

Inzwischen ist man in Warschau angekommen und der Ehemann wird im Ghetto interniert, wo er bei der jüdischen Selbstverwaltung hilft. Seine Frau nutzt außerhalb, im „arischen“ Teil der Stadt, ihren Status als Deutsche, um Nazifunktionäre zu bestechen, heimlich nach Deutschland zu reisen oder Nahrungsmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Ihr Mann kann sich noch vor seiner Verschleppung ins Konzentrationslager verstecken und erlebt noch den Ghettoaufstand 1943 und den Warschauer Aufstand 1944. Danach wird Leni Zytnicka als „Arierin“ deutscher Herkunft mit der jüngeren Tochter nach Deutschland evakuiert, während die ältere Tochter als Polin zur Zwangsarbeit abgeordnet wird. Im November 1944 sieht sie dabei ihren Mann das letzte Mal. 1945 wird er für tot erklärt.

Fast ebenso erschütternd ist das Schicksal Leni Zytnickas nach dem Krieg. Ihre Forderungen nach Entschädigung und Wiedereinbürgerung wurden in dieser Zeit von den bundesrepublikanischen Behörden ohne allzu viel Wohlwollen behandelt, geradezu als bürokratisches Spießrutenlaufen. Traumatisierungen machen sich bei ihr bemerkbar. Auch das ein Kapitel der Geschichte, das zu erzählen sich lohnt.

Am Ende steht hier ein Stück Geschichte, das Dinge subjektiv und ohne falsche Distanz beschreibt, aber dafür authentisch und lebensnah herüberkommt. Gerade der Einzel- und vor allem Sonderfall der Leni Zytnicka führt einem nicht nur kaum bekannte Fakten vor Auge (etwa die Verschleppung polnischer Ostjuden im Jahre 1938), sondern zeigt auf eindringliche Weise, wie sehr die verfolgten Menschen unter dem Nationalsozialismus zum Spielball der Machtwillkür wurden. Solche Bücher sollten Pflichtlektüre werden.