Außerschulische Bildung 1/2020

Heidi Behrens/Norbert Reichling: „Ich war ein seltener Fall“

Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka

Man darf sich das Morden der Nazis nicht als eine einfache gradlinig wütende Maschinerie vorstellen. Es evolvierte nicht-linear und ließ immer neuer und unberechenbarer Willkür Raum. Für die Opfer machte dies die Sache noch viel fürchterlicher und unvorstellbarer. Der Spruch, dass der Tod eines Menschen eine Tragödie, aber der von Millionen bloße Statistik sei, gewinnt hier einen Sinn. Man kann die Grauen des Nationalsozialismus nur verstehen, wenn man auch versteht, was dies alles für ein Einzelschicksal bedeutete und welchen geradezu unerklärbaren Gewalten die Opfer ausgesetzt waren.

Bei der Vermittlung des Themas in Schulunterricht und Erwachsenenbildung sollte man dies stets berücksichtigen. Dass sich als Autor*innen des Buches „Ich war ein seltener Fall“ zwei Erwachsenenbildner*innen zusammengesetzt haben, um das Schicksal der Essenerin Helene („Leni“) Zytnicka, geb. Mantwill, zu schildern, ist daher schon von vornherein ein vielversprechender Ansatz.

Das Buch gehört dem Genre der „Oral History“ an, d. h. die Autor*innen haben Leni Zytnicka, die 2007 im stolzen Alter von 103 Jahren starb, zwischen den Jahren 2000 und 2003 mehrfach lange interviewt und die Gespräche aufgezeichnet. Die langen Interviewpassagen werden durch Überleitungen, Kontextualisierungen, Kommentare und Dokumente ergänzt, sodass sich am Ende ein mehr oder minder kohärentes Narrativ ergibt. Und das ist in der Tat dramatisch.

Die Protagonistin, die aus einer Essener Arbeiterfamilie stammte, heiratete 1926 den polnischen Juden David Zytnicka. So wie sie es schildert, bereitete es zu diesem Zeitpunkt niemandem Probleme, dass sie dadurch die polnische Staatsangehörigkeit übernahm (und die deutsche verlor) und freiwillig für ihren Mann zum Judentum konvertierte und später ihre gemeinsame Tochter auf eine jüdische Schule schickte.