Außerschulische Bildung 3/2021

Hendrik Hansen/Tim Kraski/Verena Vortisch (Hrsg.): Erinnerungskultur in Mittel- und Osteuropa

Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Kommunismus im Vergleich

Andrássy Studien zur Europaforschung, Bd. 20
Baden-Baden 2020
Nomos Verlag, 230 Seiten
 von Eckart Stratenschulte

Der 22. Juni 2021 markiert den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Der Zweite Weltkrieg erhielt damit noch einmal eine neue Dimension. Im Gefolge der Deutschen Wehrmacht trieben die Einsatzgruppen die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten mit schrecklicher Systematik voran.

Der Holocaust ist ein singuläres Menschheitsverbrechen. Aber taugt er auch als „europäischer Gedenkort“, von dem aus man eine gemeinsame Erinnerungskultur begründen kann? Wie steht es um die ebenfalls schrecklichen Erfahrungen der zwangsweise in die Sowjetunion integrierten Balten, um die Menschen, die durch schiere Machtpolitik in den „Ostblock“ eingezwängt wurden, die in den sowjetischen Gulags landeten?

Dieses sind zwei von zahlreichen Fragen, die der o. g. Band aufgreift. Das Buch besteht aus drei Teilen und enthält (einschließlich der Einleitung) zehn einzelne Beiträge verschiedener Autoren.

Hendrik Hansen geht zu Beginn auf eine Frage ein, deren Beantwortung auch die Relevanz erklärt, die das Buch für die politische Bildung hat. Erinnerungskultur kann sich nicht auf das Gedenken an die Opfer beschränken, sondern ist – neben der Empathie für die Geschundenen und Ermordeten – für die Gestaltung unserer Gesellschaft und politischen Ordnung heute von großer Bedeutung: „Erinnerungskultur ist das geistige Ringen mit dem zur Macht gekommenen Extremismus in der Vergangenheit, und dieses Ringen ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Extremismus der Gegenwart.“ (S. 37)

Hansen plädiert in seinem Aufsatz dafür, sich nicht nur mit den Ergebnissen totalitärer Ideologie wie Rassismus und Völkermord zu befassen, sondern auch mit der Struktur des diesen zugrundeliegenden politischen Denkens: „Diese Struktur tritt erst plastisch vor Augen, wenn durch den Vergleich die Parallelen zu anderen totalitären Ideologien, die die Menschenwürde, die Menschenrechte und die freiheitliche demokratische Grundordnung in ähnlicher Weise in Frage stellen, herausgearbeitet werden.“ (S. 39)

Hansen redet nicht einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus das Wort, aber er möchte den Stalinismus und den Terror (in) der Sowjetunion mit in den Blick nehmen.

Heidemarie Uhl weist in ihrem Beitrag auf das „trennende Gedächtnis“ (S. 76) in Europa hin und stellt Überlegungen an, wie daraus ein „geteiltes“ werden könne. Der Doppeldeutigkeit von „teilen“ ist sie sich dabei bewusst. Die Mittel- und Osteuropäer drängen – seit einigen Jahren auch in der Europäischen Union – darauf, ihre Leidenserfahrungen in der europäischen Erinnerungskultur zu berücksichtigen.

Wie schwierig es mit dem kollektiven Erinnern in Mittelosteuropa ist, zeigen im zweiten Teil des Buches der Beitrag von Ines Geipel (zur DDR), die beiden Aufsätze von Catherine Horel und Réka Szentiványi (zu Ungarn) und der von Adam Krzemiński (zu Polen). Erinnerungen werden beschwiegen und überdeckt, eigene Schuld wie die Unterstützung des Holocaust in Ungarn und Polen geleugnet und historische Narrative als Instrumente im aktuellen Parteienkampf benutzt.

Gibt es also ein „europäisches Gedächtnis“, kann es das geben? Das bezweifelt im dritten Teil der Beitrag von Frank-Lothar Kroll. Er resümiert: „So steht, je länger man die historischen Entwicklungslinien zurückverfolgt, und je intensiver man die unterschiedlichen Erfahrungsräume und Lebenswelten der Großregionen Europas in den Blick nimmt, die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Erinnerung, gar eines zentralen ‚Lieu de mémoire‘ oder einer für alle Bürger der Europäischen Union verbindlichen ‚Identität‘ doch sehr in Frage.“

Der vorliegende Sammelband gibt keine letztgültigen Antworten, wie sollte das auch gehen? Aber er ist informativ und gibt einen guten Überblick über die schwierige Diskussion über europäisches Gedenken, das auch und gerade in der Politischen Bildung mehr sein muss als das Abfeiern einzelner Gedenkveranstaltungen zu Jahrestagen. Manfred Weinberg greift in seinem Beitrag die Forderung von Jaroslav Rudiš auf, der „mehr Stammtische“ fordert, also Orte, an denen man miteinander redet und auch aufeinander eingeht.

Hier sind wir bei einem Kernpunkt der europäischen Bildungsarbeit, deren Ziel es nicht sein kann, Denken und Gedenken zu vereinheitlichen, sondern es in seiner Vielfalt zuzulassen. Gerade darin könnte sich eine europäische Gemeinsamkeit herausbilden: Wir hören einander zu und akzeptieren, dass andere vieles anders sehen.

Das vorliegende Buch ist hierzu eine lohnenswerte Lektüre.

Prof. Dr. Eckart Stratenschulte lehrt als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft und ist als Dozent und Publizist für verschiedene Institutionen tätig.