Außerschulische Bildung 1/2023

Jakob Baier/Marc Grimm (Hrsg.): Antisemitismus in Jugendkulturen

Erscheinungsformen und Gegenstrategien

Frankfurt am Main 2022
Wochenschau Verlag, 246 Seiten
 von Norbert Reichel

Wer von Gewalt spricht, ist schnell bei der Jugendgewalt. So ist es auch mit Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus. Aber vielleicht verhalten sich Jugendliche – vorsichtig gesagt – nur deshalb „auffällig“, weil Erwachsene es vorleben? Die Bielefelder Mitte-Studien ließen sich so interpretieren. Gerade Antisemitismus ist ein „kultureller Code“ (Shulamit Volkov), unabhängig vom Lebensalter.

Das Buch „Antisemitismus in Jugendkulturen“ enthält Texte von 20 Autor*innen (nur drei Frauen!). Hintergrund sind die „unabgeschlossenen und prekären“ Prozesse der Identitätsbildung im Jugendalter (S. 8). Konkret geht es um vier Themenblöcke: „Musikbezogene Jugendszenen“ (4 Texte), „Jugendrelevante Medien“, „Politik und Religion“ (je 3 Texte) und „Fußball“ (2 Texte). Einige Beiträge nutzen die Ergebnisse qualitativer Fallstudien und Workshops, andere bieten eine Sekundäranalyse, beispielsweise mit Datensätzen von RIAS oder der Amadeu-Antonio-Stiftung.

Grundlegend ist die Analyse von Stefan Hößl, der fordert, in der Bildungsarbeit „Gemeinschaftsbilder als Schlüssel-Kategorien antisemitischer Bildungsarbeit zu begreifen und sie ins Zentrum der Überlegungen zu rücken“ (S. 192). Im Grunde schaffe Antisemitismus eine Art „imaginierter Gemeinschaft“ im Sinne von Benedict Anderson. Ein Gegenbild entstehe aus der jüdischen Perspektive wie sie beispielsweise Julia Bernstein in ihren Studien zum Antisemitismus in Schulen und zum israelbezogenen Antisemitismus zur Geltung kommen lässt.

Viel Material bietet das Musikkapitel. Rechtsrock ist voller antisemitischer Invektiven, oft „verschlüsselt“ (S. 74), Motive des christlichen Antijudaismus zitierend, antisemitische und antikapitalistische Klischees vermengend. Es werden die Texte konkreter Gruppen und ihr jeweiliges Publikum beschrieben, bis hin zur rechtsextremistischen Terrorszene. Die familiären Hintergründe der Jugendlichen, die die jeweilige Musik konsumieren, werden angesprochen. Die Präsenz von Verschwörungserzählungen, insbesondere zum Nah-Ost-Konflikt, anti-zionistisch beziehungsweise anti-israelisch grundiert, geschmacklose Bezüge auf die Shoah, auch bei Gangsta-Rap und HipHop, sind offensichtlich. Ferner „wird Antisemitismus immer wieder in Konkurrenz zu eigenen Diskriminierungserfahrungen gesetzt oder gar unterstellt, der Antisemitismusvorwurf diene einzig dazu, Rapper*innen mit muslimischem Hintergrund mundtot zu machen.“ (S. 37) Antifaschistische Teile der Szene des Punks und Hardcore behaupten, dass sie per se nicht antisemitisch sein könnten (S. 61).

Im Medien-Kapitel untersucht Melanie Babenhauserheide die Frage, ob antisemitisch antriggerbare Elemente bereits antisemitischen Charakter hätten. Ergebnis: „Die Darstellung der Kobolde birgt kein ‚ausgereiftes‘ antisemitisches Bild, sondern es bleibt hohl, entleert, funktioniert nach der immanenten Logik der Erzählung, nicht als eins-zu-eins-Übersetzung des Antisemitismus in die fiktiven Parameter.“ (S. 104) Interessant ist die Rezeption in der Fan-Fiction, die aber auch keine schlüssige Klarheit bietet. Die Beiträge zur Steam-Community und zu Memes thematisieren die Anschlussfähigkeit dieser beiden Medien-Phänomene. Aufschlussreich sind Profilbilder, in denen eine „codierte Kommunikation über Namen und Anspielungen in Bild und Text“ stattfindet, auch mit konkreten Namen von NS-Verbrechern (S. 121). Das Problem liegt allerdings nicht in der Nutzung von Spielen und Memes durch rechte Terroristen (NSU, Münchner OEZ, Christchurch, Halle) sondern darin, dass sie Anschlussfähigkeit durch „hohe Effektivität bei geringen Kosten“ ermöglichen. Erstaunlich, dass die Steam-Community nicht unter das Netzwerkdurchsetzungsgesetz fällt (NetzDG), sondern sich nur 26 Personen, die Hälfte ehrenamtlich, mit der Frage menschenfeindlicher Inhalte auseinandersetzen.

Die Politik-Kapitel konkretisieren die in den vorgenannten Kapiteln angesprochenen Strategien der Camouflage und der Mimikry. Die Identitäre Bewegung behauptet von sich, sie vertrete „100 % Identität – 0 % Rassismus“ (S. 160) und pflegt eine „Strategie der Vermeidung offenen Antisemitismus“. Gleichzeitig versteht sie sich auf „Anpassung (…) an popkulturelle und jugendliche Modetrends und Sprachspiele“ (S. 168). Solche Strategien gibt es nicht nur auf der rechten, sondern auch auf der links-antiimperialistischen Seite, beispielsweise beim „Jugendwiderstand“ (JW), der sich mit linker Rhetorik misogyner und antisemitischer Motive bedient und als „Gegenkultur zum hegemonialen Mainstream, aber auch zu anderen linken Subkulturen“ inszeniert. Ähnlich ist es im Sport. Amateurfußball bietet eine „Gelegenheitsstruktur“, Widerspruch „hängt auch von den potentiellen Erfolgsaussichten“ ab (S. 214).

Fazit: Das Buch demonstriert das hohe antisemitische Potenzial jugendaffiner Phänomene. Um wirksam gegen Antisemitismus vorzugehen bedarf es einer systematischen Konzeptentwicklung, gerade auch für die politische Bildung, und nicht zuletzt gut ausgestattete Meldestellen, von denen es zu wenige gibt.

Norbert Reichel ist promovierter Literaturwissenschaftler und Pädagoge. Er arbeitete 34 Jahre in obersten Bundes- und Landesbehörden. Seit 2019 betreibt er als freier Autor das Internetmagazin „Demokratischer Salon“ (www.demokratischer-salon.de).