Eine sozialisationstheoretische und bildungshistorische Analyse
Verlagsgruppe Beltz/Juventa, 636 Seiten
Zunächst taucht im Titel eine, dem fachkundigen Leser etwas ungewohnte Begrifflichkeit auf: außerschulisch einerseits und Jugendorganisation andererseits. „Außerschulisch“ als bekannter Begriff, assoziiert eher Jugendbildung, während der Begriffsteil „Jugendorganisation“ eher ungebräuchlich ist und meist mit Jugendverbänden in Verbindung gebracht wird. Ich komme später darauf zurück.
Bei diesem recht umfangreichen Buch handelt es sich um die bearbeitete Habilitationsschrift von Jakob Benecke, vorgelegt 2018 an der Universität Augsburg bei Professorin Dr. Eva Matthes. Um es vornweg zu sagen: Nicht nur der Text selbst, sondern schon alleine die Fundgrube von Anmerkungen und das umfangreiche Literaturverzeichnis lohnen das Lesen des Buches. Durch die Anlage eines Stichwortverzeichnisses hätte das Buch einen noch höheren Gebrauchswert.
Als langjährig in der Jugendarbeit Tätiger weiß ich um die Geschichtsvergessenheit dieser Disziplin – umso wertvoller ist diese Arbeit, die sich als historische Längsschnittstudie versteht und somit der hektischen Konzeptionitis und Projektitis ein fundiertes Grundlagenwissen zur Seite stellt.
Zunächst werden Jugendorganisationen im Sozialisationskontext verortet als intermediäres System, das sowohl der Interessensvertretung dient als auch als Integrationsinstanz und Kontrolle durch staatlich beaufsichtigte Bildungsleistungen. Schon hier wird die Dichotomie von Jugendorganisationen angelegt: Ihre Entwicklung kann sowohl selbstbestimmt verlaufen als auch komplett unter staatliche Aufsicht gestellt sein, wie der Autor ausführlich an den Beispielen der Hitlerjugend (HJ) und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) nachzeichnet. Mehr als einmal in der Geschichte wurden selbstorganisierte Jugendbewegungen von politischen Akteuren manipuliert, kolonisiert und schließlich in Dienst gestellt.
In fünf Abschnitten wird die bildungshistorische Gesamtdarstellung der außerschulischen Jugendorganisationen quellenreich, unter Benutzung gängiger Fachliteratur aber auch mit neuen Quellen, systematisch dargestellt: Kaiserreich (samt Vorläufer), Weimarer Zeit, Nationalsozialismus, BRD und wiedervereinigtes Deutschland nach 1990 sowie die DDR.
Aber ausgerechnet das sechste Kapitel („Jugendorganisationen in der Bundesrepublik nach 1945 und im wiedervereinigten Deutschland seit 1989/90“) erweist sich nicht nur quantitativ als schwächstes Kapitel: nur 42 Seiten – im Vergleich dazu die Weimarer Zeit mit mehr als 140 Seiten. In diesem Kapitel wird ausschließlich Bezug genommen auf die Entwicklungen der Jugendverbände und der politischen Jugendorganisationen. Die Jugendzentrumsbewegung, die Entstehung der Offenen Arbeit und die zunehmende Professionalisierung innerhalb der Jugendarbeit finden kaum Erwähnung, und die Jugendbildung schon gar nicht.
Möglicherweise mag das daran liegen, dass man abgeschlossene Phasen der Jugendorganisationen (zumindest im historischen Kontext) in einer historisierenden Betrachtung umfassender analysieren kann als eine Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist, konzeptionell laufend Veränderung erfährt und vielfältig in unterschiedliche Richtungen mäandert.
Im ausblickenden Schlussteil geht Benecke dann ein wenig den Perspektiven nach, die sich aus seiner Betrachtungsweise für die weitere Entwicklung der Jugendarbeit ergeben. Bekannte Ergebnisse aus diversen Jugendstudien und die vielmals deklinierten Schlagworte wie Bedeutungsverlust, weniger Engagement, geringere Mitgliedszahlen ordnet er gewissermaßen als Konstante der Jugendorganisationen ein, die zahlenmäßig und von ihrer Bedeutung her immer starken Schwankungen unterworfen sind. Als herausragendes neues Element der letzten 40 Jahre benennt er das Entstehen der Jugendkulturen, die sich nicht ohne weiteres wie die Jugendarbeit als intermediäres System begreifen lassen. Die weitere Entwicklung von Jugendorganisationen sieht er durchaus als ambivalent: Aufbruch und Kritik können sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Neben der Verfestigung problematischer (z. B. egoistischer oder rechtsradikaler) Einstellungen, können sie auch neue Aufbruchsbewegungen initiieren und dominieren (z. B. Fridays for Future).
Fazit: Neben vielen dem Erkenntnisgewinn dienenden Teilen dieser Studie muss man dennoch die Frage stellen, ob nicht durch die Begrifflichkeit der „Jugendorganisation“ unzulässige Vermischungen entstehen. Nicht immer wird dadurch deutlich, von welchem Gegenstand jeweils die Rede ist: von jugendlicher Selbstorganisation oder staatlicher Intervention, Aufsicht und Steuerung der Jugendarbeit. Dennoch handelt es sich um eine äußerst lesenswerte und trotz ihres Umfangs auch lesefreundliche Lektüre, die gewisse Kontinuitäten sowohl in der Entwicklung von Jugendorganisationen wie auch des gesellschaftlichen Zugriffs auf diese erkennen lässt.