LIT-Verlag, 370 Seiten
In einem historischen Moment, in dem die deutsche Erinnerungskultur von postkolonialen Kritiker*innen leichthin als „Katechismus“ und verknöchert bewertet wird, kann ein Blick auf die Entstehungsbedingungen nicht schaden. Gedenkstätten werden oft als staatlich-repräsentative Veranstaltungen angesehen. Dass wir aber die Mehrzahl der relevanten Erinnerungsorte bürgergesellschaftlichen Initiativen verdanken, kann angesichts des heute dominanten Elitenkonsenses über ihre Bedeutung leicht übersehen werden.
Auf diesen Umstand macht die deutsch-britische Historikerin Jenny Wüstenberg aufmerksam, die die Veränderungen in der späten Bonner und der Berliner Republik untersucht hat. Auf der Grundlage von etwa 90 Interviews mit zivilgesellschaftlichen, politischen und administrativen Akteur*innen sowie wissenschaftlichen Beobachter*innen rekonstruiert sie die „aktivistische Entstehungsgeschichte“ einer Erinnerungskultur, die bis heute von den beiden Polen „Repräsentation“ und „Gegengeschichte“ geprägt ist. Sie referiert die politisch-gesellschaftlichen Interaktionen in diesem Gebiet seit 1945 sowie die spätere Gedenkstätten- und Geschichtswerkstatt-Bewegung, die künstlerisch-ästhetischen Implikationen der neu formierten Geschichtskultur und die geschichtspolitischen „Interferenzen“, die mit dem Jahr 1989 aufkamen.
Der Erinnerungsprotest war stets verschränkt mit offiziösen (und auch medialen) Prozessen – zu reden ist also von Kooperation und Durchdringung. Ein Aufbrechen der begrenzten Mainstream-Narrative (einerseits der selbstbezüglichen deutschen Opfer-Erzählung, andererseits kommunistischer Geschichtslegenden) datiert Wüstenberg für den Westen überzeugend auf die 1980er-Jahre, für den Osten auf das folgende Jahrzehnt. Entgegen verbreiteten Legenden hält sie explizit fest, dass „1968“ nicht als Aufbruch in eine vielfältige Geschichtskultur gelten kann – jedenfalls nicht inhaltlich, allenfalls im Erproben neuer Aktionsformen. Der „Grabe wo du stehst“-Aktivismus bedurfte vielmehr der Entzauberung linker Großideologien sowie eines Feindbildes, das mit der konservativen Geschichtspolitik der 1980er Jahre (und deren Überschätzung) erwuchs. In der DDR wagten sich nur wenige Außenseiter(-Gruppen) an staatlich unerwünschte Bezirke der Zeitgeschichte heran. Im Westen stand oftmals die Erhaltung von baulichen Relikten am Beginn des Kampfs um Gedenkorte.
Für viele der bürgerschaftlichen Initiativen gilt, dass sie in mehreren „Durchgängen“ zum Erfolg kamen – etwa von einem Gedenkzeichen über die Restaurierung eines Gebäudes bis hin zur „arbeitenden Gedenkstätte“. (Dass dies alles ein Generationenprojekt gewesen ist, geht in Wüstenbergs Überblick leider fast unter.) Zu den Erfolgsfaktoren der Gedenkstättenbewegung zählten ihre Vernetzung sowie die konzeptionelle Idee, Gedenken mit partizipativem Lernen, Forschen, Sammeln und künstlerischen Ansätzen zu verbinden. Solche Innovationsfähigkeit begründete eine Position der Stärke gegenüber den verwaltenden und fördernden Institutionen. Für die sogenannte Geschichtsbewegung kann Ähnliches festgestellt werden, obwohl sie eine größere thematische Breite (inklusive Arbeit, Alltag, Geschlechtergeschichte u. a.) aufwies. Kann beim „Marsch durch die Institutionen“ an einem „Selbstbild von Subversivität“ (S. 166) festgehalten werden? Wüstenberg ist überzeugt, dass die normativen Implikationen des zivilgesellschaftlichen Engagements, also z. B. Demokratisierung und Empowerment, auch dort wirksam blieben, wo die oppositionell gestimmten Akteur*innen in Projekt- oder Institutionsleitungen wechselten.
Ein Kapitel erinnert daran, inwiefern neue reflexive, dezentrale oder dynamische Denkmalformen Teil dieser Aufbrüche waren. Dass nach dem Ende der DDR deren „Aufarbeitung“ nach vergleichbaren Mustern, aber beschleunigt verlief, kann nur summarisch erwähnt werden. Die SED-Opfer waren etwas erfolgreicher als die der Nazi-Verbrechen in ihrem Kampf um Beteiligung, wiewohl auch hier die „Professionalisierung“ der Etablierung von Gedenkorten auf dem Fuße folgte.
Das Schlusskapitel umreißt mit dem Begriff der „hybriden Institutionen des Gedenkens“ Gegenwart und Aussichten. Macht, Standards, „Krieger“ und „Pragmatiker“ sind die Analyse-Kategorien, und die Autorin resümiert, dass die Mehrzahl der Erinnerungsorte bis heute locker mit sozialen Bewegungen verknüpft und von Aushandlungsprozessen geprägt ist. Ihr Doppelcharakter produziert Unübersichtlichkeiten, aber auch hohe Effektivität, Reichweite und Reflexivität; als unhintergehbare Standards haben sich Wissenschaftsbasierung und Partizipation herausgebildet. Ein Plädoyer für anhaltende Offenheit und weniger Tabus steht am Ende dieses Befundes (und eine Übertreibung insoweit, als der „strengen“ Vermittlungsarbeit der Gedenkstätten eine Mitschuld an rechtspopulistischen Stimmungen gegeben wird).
Die Auswahl der Gesprächspartner*innen wird nicht begründet, ist aber plausibel. Doch hätten, auch wenn die „Rollen“ oft changieren (von der Geschichtswerkstatt zum Museumsleiter usw.), die jeweiligen Blickwinkel deutlicher konturiert werden können. Angesichts immer noch wirksamer „Lager-Mentalitäten“ und Erinnerungskonkurrenzen ist es zu begrüßen, dass Wüstenberg die Erinnerung an NS-Geschichte, an die DDR-Geschichte, aber auch an Nachkriegsvertreibungen in ihre Analyse einbezieht, wenngleich die unterschiedlichen Kontexte nicht immer klar genug werden. Die Folgen der „Bewegungen“ werden leider nur an sehr wenigen Institutionen exemplifiziert.
Die Arbeit von Jenny Wüstenberg ist ungeachtet dieser kritischen Randnoten eine Pionier- und Grundlagenstudie. Politische Bildung kann sich davon anregen lassen, die Geschichtlichkeit von Erinnerungsinstitutionen, die Stärken einer wenig regulierten Pluralität sowie die Wirkungen des Engagements von Minderheiten zu verdeutlichen.