Außerschulische Bildung 4/2023

Jens Korfkamp/Ulrich Steuten: Was ist Heimat?

Klärung eines umkämpften Begriffs

Der erste Satz des Buches sagt schon fast alles: „Der Heimatbegriff zeichnet sich nicht durch seine Präzision aus.“ „Heimat“ ist nicht der einzige Kampfbegriff, der ins Feld geführt wird, um die eigene Identität zu stärken, indem man andere ausschließt. Ähnlich funktionieren „Volk“, „Vaterland“, „Leitkultur“ oder einfach „Deutschland“. Götz Kubitschek sagte einmal mit bewegter Stimme, dass das Wort „Deutschland“ für ihn einen „Zauber“ enthalte. Victor Klemperer diagnostizierte in LTI „die Emotionalisierung des Vaterlandes durch die nationalsozialistische Blut- und Bodenmythologie“ (S. 51).

Das Buch besteht aus zwölf chronologisch aufgebauten Kapiteln. Die Autoren führen Leser*innen aus vorindustrieller Zeit ins 21. Jahrhundert. Im zwölften Kapitel erörtern sie die Frage, ob der Begriff in den „Giftschrank der Geschichte“ gehöre (S. 135 ff.). Sie nennen drei Perspektiven: die Anschlussfähigkeit in rechtsradikalen Kontexten sowie eine „Pluralisierung“ des Begriffs, der möglicherweise zum „Erinnerungsbegriff geworden ist“ (S. 137). Mit der dritten Perspektive folgen sie Carolin Emcke: „Heimat“ ist mehr als ein Ort, dazu gehören „Gerüche, Geräusche und Klänge, Rituale, Lieder und Geschichten“.

Das Buch enthält im Rückgriff auf das Grimm’sche Wörterbuch Hinweise zur Etymologie, zu der auch christliches Gedankengut gehört, wie in dem Lied „Wir sind nur Gast auf Erden“ deutlich werde. Im 19. Jahrhundert hat „Heimat“ ihren Platz als Teil von „Fortschrittskritik“ und „Zivilisationskritik“. Heimat- und Bauernromane, Dorfgeschichten postulierten „das Dauernde der Natur“ als „Zuflucht“ und Gegenpol zur Industriegesellschaft (S. 29 ff.). So entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „kulturpessimistisch“ gestimmte „Heimatschutzbewegung“ mit ihren Vereinen (S. 34 ff.). Als „heimatlos“ bezeichnet wurde die Arbeiterbewegung. „Heimat“ war ein bürgerliches Konzept, Bürger*innen profitierten vom Wohlstand der Industriegesellschaft, träumten sich aber in eine intakte „Natur“ hinein, ohne Industrie und ohne Industriearbeiter: „Naturerfahrung stärkte somit auch das Vaterlandsgefühl.“ Unter den Nazis wurde „Heimat“ im Volksbegriff radikalisiert (S. 56), „Agrarromantik“ wurde Teil der Rassenlehre.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten vor allem die Vertriebenenverbände den Begriff, eine Renaissance erlebte er in den 1970er und 1980er Jahren. „Die unmittelbare Nähe, der alltägliche Lebensraum gewann gegenüber den die Weltpolitik beherrschenden Themen, die die 1960er und 1970er Jahre bestimmt hatten (zum Beispiel der ‚Kalte Krieg‘ …, Vietnamkrieg, Internationalismus) wieder an Bedeutung.“ (S. 91 f.) Irgendwie waberte ein Traum vom richtigen Leben im falschen, das in den 1980er und 1990er Jahren auch bei der Gründung der Grünen eine Rolle spielte (vielleicht wäre eine eigene Untersuchung über die Verwendung scheinbar konservativer Begriffe bei sich als Linke verstehenden politischen Gruppen von Interesse). Auch die DDR kam ohne den Heimatbegriff nicht aus und betrieb „die Weiterentwicklung des Sozialismus auf der Grundlage einer proletarischen Volks- und Heimatkultur“ (S. 79).