Zur Kritik der Erinnerungskultur
Klemm+Oelschläger, 111 Seiten
Mit dem Band legt Johannes Schillo erneut einen Beitrag zur Kritik der Erinnerungskultur vor. Wenngleich vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verfasst, lesen sich die Ausführungen unter dem Brennglas der politischen und medialen „Zeitenwenderhetorik“ und der in diesem Zusammenhang stehenden politisch motivierten (Re)Interpretationen von Geschichte kontrovers und anregend.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Genese der sogenannten Erinnerungskultur in Deutschland: In Konsequenz der Sozialrevolten der 68er-Bewegung mit ihrer Forderung nach einer begreifenden Aufarbeitung der Vergangenheit sowie der Kritik des Fortlebens des Faschismus in der Demokratie werden Gedenkstätten, Geschichtswerkstätten und „schulpädagogische Bemühungen“ (S. 7) etabliert und Erinnerung zur staatlichen Kulturaufgabe erklärt. Schillo stellt seine Ausführungen in die Argumentationslinie einer Kritik der Vergangenheitsbewältigung, wie sie Rolf Gutte und Freerk Huisken in „Alles bewältigt, nichts begriffen“ (1997) vorlegten: Bei der real existierenden Vergangenheitsbewältigung gehe es um die Herausbildung loyaler „Nationaldemokraten“ („Schule des Nationalismus“) statt um eine sachlich-kritische Urteilsfindung. Ziel sei somit die ideelle, moralische Vereinnahmung mit einem identitätsstiftenden Nationaldispositiv qua Be- und Entschuldung. Erinnerungskultur werde, insbesondere nach der Wiedervereinigung, zum nationalen Besitzstand modifiziert, die immer wieder an den aktuellen Bedarf angepasst werden müsse (patriotischer „Renovierungsbedarf“, S. 12). Einerseits, um sie auch gegen einen „schlechten“ Nationalismus von rechts in Stellung zu bringen, andererseits diene sie, so die Kernthese, in erster Linie einer aus einer nationalstaatlichen Läuterung sprießenden „imperiale(n) Selbstgerechtigkeit“ (S. 7), um über „Recht und Unrecht, über Gut und Böse auf dem Globus“ mitzubestimmen (S. 28).
Im Weiteren wendet Schillo den Blick der Position der AfD zur politischen Bildung zu, die einen prominenten Platz in deren strategischen Ausrichtung einnimmt: Die Pointe liege dabei in der Identität von Prämisse und Fazit der Analyse: „Das deutsche Volk ist gut, es ist nur verführt, und zwar durch pädagogische (und mediale) Indoktrinierungskunst einer professionellen Truppe, die sich dem Parteienkartell zur Verfügung stellt.“ (S. 37) Die bestehenden Strukturen politischer Bildung seien im Verständnis der AfD dazu vorhanden, um die Verbrechen am deutschen Volk zu legitimieren. Die Fokussierung auf diesen Bildungsbereich erscheine besonders grotesk, denn dies schreibe der politischen (Erwachsenen)Bildung einen Umfang und eine Wirkmächtigkeit zu, die diametral zu Teilnahmestatistiken und auch Erfahrungsbeständen der im Feld Tätigen liegen.
Daraufhin nimmt der Verfasser die seit 2018 bestehende Desiderius-Erasmus-Stiftung in den Blick, mit der die AfD einen ihr ideell nahestehenden Akteur in der Landschaft politischer Bildung platziert hat, der sich dem Geiste der „Volkbildung durch Volksbildung“ verpflichtet sieht; das geistige Aroma sei der „politische Idealismus der Volksgemeinschaft“ (S. 86). Als Antagonist und zentraler Sündenbock, der eine „volksschädigende“ Entwicklung seit 1968 vorangetrieben habe, werde der (Kultur)Marxismus und Sozialismus (S. 71) ausgemacht. So abseitig dies klingen mag, die AfD könne damit an eine lange antisozialistische und -kommunistische Traditionslinie aus dem bürgerlichen Spektrum anknüpfen.
Von Seiten des intellektuellen Überbaus der neuen Rechten sei das entscheidende Qualitätskriterium, dass sich Denken als deutsches ausweisen muss, wie Schillo in seinen Ausführungen „Deutsch denken – geht das?“ feststellt. Allerdings komme dies einer Quittierung des Denkens gleich: Denn Denken sei „die geistige Arbeit, die sich auf einen Gegenstand richtet, um seine wesentliche Bestimmung und deren Zusammenhang zu erfassen und ihn damit auf den Begriff zu bringen“ (S. 77).
Abschließend steuert Manfred Henle einen „Nachtrag“ bei, der die politische-strategische Stoßrichtung der deutschen Erinnerungspolitik anhand der Rede des Bundespräsidenten zum 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion am 22.06.1941 („Unternehmen Barbarossa“) analysiert. Der Verfasser arbeitet eine lesenswerte Vermessungsrhetorik eines „gerechten“ Krieges heraus, die sich der Emotionalisierung in Gut und Böse bediene und das „warum“ und „wozu“ offenlasse, wie dies Schillo bereits zuvor analysierte: Nach einer gewissenhaften Prüfung des Völkerrechts und des Ausmaßes an Leid, wie die damals zukünftige Außenministerin Baerbock dies formulierte, könne „mit Recht Krieg“ geführt werden.
Der Band erörtert auf plausible Weise, wie Geschichte unter den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen kommodifiziert und unter dem Brennglas des jeweiligen (politischen) Zeitgeschehens justiert und instrumentalisiert werden kann und wird. Die Positionen der AfD erweisen sich dabei als hilfreiche Ankerpunkte: So entsteht aus der Kritik an der selbstetikettierten „Alternative“ keine rational einsichtige, humane Alternative, sondern sie erscheint leicht ebenfalls als „Gestalt der Gegenaufklärung“ (Ingo Elbe 2021), als hochgejazzter „nationaler Aufreger“. Wer die Analysen des Bandes liest, dürfte der öffentlichen „Zeitenwenderhetorik“ differenzierter und mit mehr Skepsis begegnen.