Außerschulische Bildung 4/2022

Julika Bürgin: Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung

Zur Politik der Demokratiebildung

Weinheim/Basel 2021
Beltz Juventa-Verlag, 168 Seiten
 von Von Norbert Reichling

In einer politischen Konstellation, die die baldige Entstehung eines Demokratiefördergesetzes erwarten lässt, ist die Studie von Julika Bürgin geeignet, einige Rahmenbedingungen kritisch auszuleuchten: Was geschieht eigentlich, wenn der Staat mittels gesellschaftlicher Akteure Extremismus zu bekämpfen bzw. zu verhindern sucht?

In den seitens der Bundesregierung implementierten Demokratiebildungs- und Antiextremismus-Programmen der letzten Jahre spielte sie eine zentrale Rolle: Die Frage, ob und wie die unter diesem Etikett geförderten Projekte und Institutionen jeweils ihre eigene Verfassungstreue nachzuweisen haben. Bürgin, die an der Hochschule Darmstadt lehrt und über Berufserfahrungen in der politischen Bildung verfügt, hat die durchgeführten Programme – „Xenos“, „Vielfalt tut gut“, „Toleranz fördern“, „Demokratie leben“ usw. überschrieben – sowie deren Evaluationen, rechtliche und pädagogische Debatten darüber untersucht und sechs Aktive aus Bildungs- und Verbandsarbeit ausführlich interviewt mit dem Ziel, die hier neu entstandenen Grauzonen zwischen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Aktivität zu beleuchten.

Sie beginnt mit einer kritischen Analyse des Extremismus-Begriffs, der unter Berufung auf Grundgesetz und Verfassungsgerichtsurteile herangezogen, aber meist in den simplifizierenden Denkschemata der Verfassungsschutzbehörden angewandt wird. Gerade die (insbesondere in Hessen praktizierte) Forderung, Träger und auch deren Mitarbeiter*innen auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen, geriet beinahe zwangsläufig in den Definitions-Windschatten der „Ämter“. Indem aber Bildungsprozessen solche Freund-Feind-Bilder und auch Umerziehungsambitionen übergestülpt werden, indem die aus Berufsverbote-Zeiten berüchtigte „Regelanfrage“ zurückkehren könnte, drohen zentrale Qualitätsmerkmale politischer Bildung wie Kontroversität, Diversität, Experimentierraum für Deutungsversuche verlorenzugehen.

Die Argumentation von Julika Bürgin kann hier angemessen nicht wiedergegeben werden, sondern nur einige Schritte ihrer Analyse benannt. Sie rekapituliert die Entwicklung der Bundesprogramme, die in Hessen gemachten Erfahrungen mit einer Verfassungsschutzüberprüfung von Förderanträgen sowie grundsätzlich die Verständnisse von Extremismus und gesellschaftlichen „Rändern“. Wie viel „Staatsfreiheit“ ist eigentlich noch möglich, wenn sich Sozialstaat und zivile Sphäre zunehmend verschränken? Auch das Phantasma eines vermeintlichen „Neutralitätsgebots“ für politische Bildner*innen wird behandelt, ebenso die systematischen Blickverengungen, die eine Orientierung an der „Wehrhaftigkeit“ für die politische Bildung mit sich bringen würde.

Bürgins zentrale These: Die Handhabung der Programme signalisiert eine drastische Verschiebung der Gewichte – weg von der Selbstkritik staatlichen Versagens und der Delegation an soziale Akteure – hin zu klassischen Kontroll- und Einbindungsstrategien. Die Profession der politischen Bildung sollte sich angesichts des vorherrschenden Sicherheitsdenkens der die Programme verwaltenden Behörden eher auf die Seite des „Eigensinns“ schlagen und ihre eigene Agenda formulieren, die sich nicht im Antiextremismus erschöpft; auch von sozialpädagogischer Defizitorientierung sollte sie sich fernhalten.

Das einzig Kritische, das über das Buch zu sagen bleibt: Etwas zu ausführlich werden die Grundsatzerwägungen aus staatstheoretischen Überlegungen, etwa von Hans Kelsen, Ingeborg Maus, Nicos Poulantzas und Helmut Ridder, hergeleitet.

Brisanz erlangen solche Befunde, wie eingangs erwähnt, im Kontext der geplanten Verstetigung der Demokratieförderung. Bürgins Aufforderung an die politische Bildung, keine als Förderung kaschierten Leistungsaufträge zu akzeptieren, wird angesichts der erheblichen Anreize, mit denen in Berlin gewunken wird (200 Mio. EUR im Vergleich zu bisherigen 23 Mio. EUR für die politische Bildung), zu einem Test auf Träger- und pädagogische Autonomie: Auch institutionell geförderte Einrichtungen haben ein Recht auf „Lehrplanfreiheit“ und Meinungsfreiheit. Und wenn die Ampelkoalition glaubt, ihr Demokratiefördergesetz mit „Wehrhafte-Demokratie-Gesetz“ überschreiben zu sollen, ist eine hohe und frühzeitige fachliche Aufmerksamkeit und fachpolitische Kritik gegenüber diesen neuen Steuerungsversuchen geboten; diese fände in Bürgins Arbeit eine gute Basis. Die gesellschaftlichen Diskurse von staatlichen Lenkungsambitionen weitgehend frei zu halten, ist nämlich nicht nur demokratietheoretisch, sondern seitens der politischen Bildung auch professionsethisch geboten.

Norbert Reichling war hauptberuflicher politischer Bildner im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union und ist ehrenamtlich in der geschichtskulturellen Arbeit im Jüdischen Museum Westfalen engagiert.