Außerschulische Bildung 1/2022

Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.): Erinnern stören

Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive

Berlin 2020
Verbrecher Verlag, 501 Seiten
 von Stephanie Böhm

Der Mauerfall, seine Ursachen und Folgewirkungen, spielten in der politischen Bildungsarbeit der vergangenen über 30 Jahre inhaltlich und zielgruppenspezifisch eine herausragende Rolle.

Immer wieder veranlassten uns politische Ereignisse, die Relevanz und Wirkung politischer Bildung kritisch zu hinterfragen. Und mit größer werdendem zeitlichen Abstand kommen eher mehr als weniger Fragen hinzu. Zeitzeug*innenberichte hatten und haben gerade in diesem erinnerungskulturellen Bereich eine Schlüsselrolle: Wer hat was wie erlebt und welche Deutungs- und Erklärungsmuster kommen zum Tragen? Welches Wechselspiel existiert zwischen individuell erlebter Geschichte und der „großen Geschichte“? Welche anderen Perspektiven gibt es? Und genau hier zeigt sich bei der Rezensentin seit einiger Zeit ein ungutes Gefühl: Wen habe ich vergessen?

Der Titel des Buches: „Erinnern stören“ könnte nicht passender sein! Es hält den Spiegel vor und lässt genau jene zu Wort kommen, die offensichtlich nicht im Blickpunkt standen. Umso wertvoller, dass in diesem Band viele unerhörte Stimmen zu Wort kommen. Eine wahre Fundgrube! Hatte ich mich jemals gefragt, wie Jüdinnen und Juden die Wende- und Nachwendezeit erlebten? Und wie Migrant*innen, die aufgrund sogenannter Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik oder als Vertragsarbeiter*innen in die DDR kamen? Hatten mich die Brandanschläge und der erneut aufkommende Rassismus bewogen, die Wurzeln in der Bonner Republik unter die Lupe zu nehmen? Alles leider Fehlanzeige.

Die 20 Beiträge in diesem Buch erweitern mein (ich muss es wohl zugeben) „hegemoniales Narrativ“ zur deutschen Wende. Aber es sind nicht ausschließlich die vielen Lebensgeschichten und individuellen Reflexionen, die kleinen und großen Projekte und Bewegungen, die das Geschichtsbild erweitern. Genauso wertvoll sind die multiperspektivischen, wissenschaftlichen Beiträge. In seiner Ganzheit verdeutlicht das Buch, dass wir längst in der postmigrantischen Gesellschaft angekommen sind, für viele unbemerkt.

In der Einführung erläutern die Herausgeber*innen die dreifache Bedeutung des Begriffs: Zum ersten geht es um den zeitlichen Aspekt und die Frage, wie sich Sprache, Arbeit und Wahrnehmung von Eingewanderten und Alteingesessenen veränderten und somit auch um den Wandel von Institutionen, Diskursen und Einstellungen. Zum zweiten geht es darum, „hinter den Migrationsschleier zu blicken“ (S. 13), dies meint, gesellschaftliche Verhältnisse als Konfliktlinien zu begreifen, die nicht erst durch Migration entstanden. Und drittens lädt der Begriff ein, „Prozesse des Fremdmachens sichtbar werden zu lassen und neue Formen der Inklusion jenseits der Trennlinie von migrantisch und nicht-migrantisch zu denken.“ (S. 13) Letztendlich besagt postmigrantisch: „Wir haben viele Namen und doch sind wir dasselbe, und zwar quer durch die politischen Landschaften und sozialen und kulturellen Schichten und Milieus in Ost und West hindurch. Wir sind die Gesellschaft der Vielen.“ (S. 14)

Die Einführung macht neugierig und setzt einen guten Rahmen für die Aufsätze und Berichte der 39 Zeitzeug*innen, Aktivist*innen und Forscher*innen, die ihre Erfahrungen und Sichtweisen mit uns Leser*innen teilen. Es lohnt sich, an der Gestaltung der postmigrantischen Gesellschaft mitzuarbeiten. Und seit der Lektüre des Buches frage ich mich immer öfter: Wen habe ich diesmal vergessen?

PS: Bereits zwei Veranstaltungskonzepte gehen auf Anregungen durch dieses Buch zurück.

Stephanie Böhm, Leiterin der Akademie Frankenwarte in Würzburg, ist gelernte Dipl.-Volkswirtin und seit 1993 in der politischen Erwachsenenbildung tätig.