Außerschulische Bildung 1/2022

Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.): Erinnern stören

Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive

Der Mauerfall, seine Ursachen und Folgewirkungen, spielten in der politischen Bildungsarbeit der vergangenen über 30 Jahre inhaltlich und zielgruppenspezifisch eine herausragende Rolle.

Immer wieder veranlassten uns politische Ereignisse, die Relevanz und Wirkung politischer Bildung kritisch zu hinterfragen. Und mit größer werdendem zeitlichen Abstand kommen eher mehr als weniger Fragen hinzu. Zeitzeug*innenberichte hatten und haben gerade in diesem erinnerungskulturellen Bereich eine Schlüsselrolle: Wer hat was wie erlebt und welche Deutungs- und Erklärungsmuster kommen zum Tragen? Welches Wechselspiel existiert zwischen individuell erlebter Geschichte und der „großen Geschichte“? Welche anderen Perspektiven gibt es? Und genau hier zeigt sich bei der Rezensentin seit einiger Zeit ein ungutes Gefühl: Wen habe ich vergessen?

Der Titel des Buches: „Erinnern stören“ könnte nicht passender sein! Es hält den Spiegel vor und lässt genau jene zu Wort kommen, die offensichtlich nicht im Blickpunkt standen. Umso wertvoller, dass in diesem Band viele unerhörte Stimmen zu Wort kommen. Eine wahre Fundgrube! Hatte ich mich jemals gefragt, wie Jüdinnen und Juden die Wende- und Nachwendezeit erlebten? Und wie Migrant*innen, die aufgrund sogenannter Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik oder als Vertragsarbeiter*innen in die DDR kamen? Hatten mich die Brandanschläge und der erneut aufkommende Rassismus bewogen, die Wurzeln in der Bonner Republik unter die Lupe zu nehmen? Alles leider Fehlanzeige.

Die 20 Beiträge in diesem Buch erweitern mein (ich muss es wohl zugeben) „hegemoniales Narrativ“ zur deutschen Wende. Aber es sind nicht ausschließlich die vielen Lebensgeschichten und individuellen Reflexionen, die kleinen und großen Projekte und Bewegungen, die das Geschichtsbild erweitern. Genauso wertvoll sind die multiperspektivischen, wissenschaftlichen Beiträge. In seiner Ganzheit verdeutlicht das Buch, dass wir längst in der postmigrantischen Gesellschaft angekommen sind, für viele unbemerkt.