Außerschulische Bildung 3/2023

Manuela Maria Grabsch: Biografische Entwürfe zwischen politischem Wandel und familiärer Überlieferung in Ostdeutschland

Biografien versteht Manuela Maria Grabsch mit Maurice Halbwachs als „Lehrstücke“, exemplarisch für das Leben an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit. Sie wünscht sich Leser*innen, die „auch emotional betroffen“ reagieren, weil sie vielleicht Parallelen zu ihrem eigenen Leben entdecken.

Die Arbeit ist als Dissertation an der Universität Mainz entstanden. Die Autorin hat 34 Personen aus drei Generationen und neun vorwiegend ostdeutschen Familien interviewt. Ihren Forschungsansatz bezeichnet sie als „entdeckende Forschung (…) vergleichbar mit dem Zusammenbau von einzelnen Mosaiksteinen zu einem Gesamtbild“. Sie vergleicht ihr Konzept mit dem Roman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen aus dem Jahr 1951 (S. 51). Der intergenerationelle Ansatz ermöglicht ihr, die Zeit zwischen 1920 und 2013 zu erforschen. Die Arbeit besteht aus vier Kapiteln theoretischer und historischer Einführung, beschreibt in dem über 200 Seiten starken fünften Kapitel die Aussagen der interviewten Personen und stellt im sechsten und siebten Kapitel ihre Ergebnisse vor, auch verbunden mit einem Ausblick auf zukünftige Forschung. Sie schließt mit einem persönlichen Fazit zur Beziehung zwischen Wissenschaftlerin und Interviewten und bietet eine fundierte Reflexion über Nähe und Distanz in biografischer Forschung.

Die Autorin stellt unterschiedliche Wahrnehmungen nach Generationen fest, aber auch Unterschiede innerhalb der einzelnen Generationen. Für die Älteren ist beispielsweise die DDR ein Land, in dem es „Solidarität, Zusammenhörigkeit“ gab (S. 313), während die Jüngeren europäischer denken, sich aber auch „diffuser“ äußern (S. 282). Mit zunehmendem Alter wird aus einer „Erfahrungsgemeinschaft“ eine „Erinnerungsgemeinschaft“ oder gar eine „Schicksalsgemeinschaft“ (ebd.). Von mehreren Interviewten wird „rückblickend die Wende als (…) fremdgesteuert erzählt“, verantwortlich seien der Westen, die Wirtschaft, die Politiker*innen (S. 312), so ist die „Beschäftigung mit der eigenen Biografie immer eine Identitätsfrage“ (S. 326). Über die Zeiten gibt es im Grunde zwei Tendenzen, „eine ‚Vorher-ist-alles-gut‘-Geschichte, ihr ‚Brucherlebnis‘, eine ‚Nachher-ist-alles-schlecht‘-Geschichte sowie eine ‚Was-hat-mir-geholfen-Geschichte“ (S. 303) sowie für diejenigen, die „Nachteile in der SBZ und DDR erfahren haben“, eine Erzählung über ihre kritische Sicht des Systems (S. 307). „Gleich ist bei ihnen jedoch die Erzählweise, dass, wenn sie nach ihren Vorstellungen, Präferenzen und Zielen ihren Lebensweg gehen können, dann sind sie eher bereit, ein politisches System für sich anzunehmen.“ (S. 328)

In diesem Sinne ist die Wende 1989 ein „multiperspektivisches Ereignis“ (S. 286). Alle wissen, dass sie selbst nicht abschließend urteilen können. Sie „eint, dass sie die gegenwärtigen Lebensverhältnisse und die (familiär und/oder offiziell vermittelten) Geschichtsbilder kritisch hinterfragen.“ (S. 291) Es ließe sich sogar schließen, es gehe im Rückblick um die Frage nach einem (gelebten) richtigen Leben im falschen, das Adorno für nicht möglich hielt, an dem einige Interviewte jedoch festzuhalten scheinen. Es gibt so etwas wie den Gegensatz „(d)ie objektive Zeitgeschichte vs. die subjektive Erzählung“ (S. 23). Für diese Lesart sprechen die durchaus deutlichen Emotionen. Ohnehin prägen die persönliche Betroffenheit in Familie und Beruf den Blick auf die eigene Biografie und damit auf das jeweilige Geschichtsverständnis.

Eine Rezension ist nicht der Ort, die lesenswerten Interviews des fünften Kapitels nachzuerzählen, daher hier nur einige Elemente der Erzählungen: Generationenkonflikte, Ost-West-Migration, Entfremdung zwischen dem Ost- und dem West-Teil einer Familie, Verlust und Verortung von „Heimat“, die Rolle der Familie bei der Bewältigung von Brüchen, Resilienzerfahrungen, innerfamiliäre Konflikte, Widersprüche der eigenen Erlebnisse in der DDR-Zeit im Spiegel späterer Erlebnisse, durchweg Vorher-Nachher-Vergleiche. Wer sich wann wie politisch äußerte, bleibt oft unklar, in der NS-Zeit ebenso wie in der DDR. Manche verbinden ihre Erzählung mit dem Wunsch an die Wissenschaftlerin, das Erzählte zu bewerten. Der Wunsch nach Klarheit und damit in gewissem Maße auch nach Rechtfertigung ist feststellbar. Kritik an dem vergangenen politischen System soll nicht in Kritik an der eigenen Person umschlagen.