Außerschulische Bildung 1/2020

Marianne Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hrsg.): Deutschland postkolonial?

Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit

Berlin 2018
Metropol Verlag, 579 Seiten
 von Norbert Tillmann

Die aktuelle, öffentliche Debatte um die Bewertung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands dreht sich um die Rückgabe von menschlichen Überresten aus den ehemaligen Kolonien, um die Konzeption des Humboldtforums in Berlin und um die Frage nach der Anerkennung des Genozids von 1904 bis 1908 im heutigen Namibia. Diese Aktualität nimmt der vorliegende Band auf, spannt aber einen großen historischen sowie erkenntnistheoretischen Bogen von der kolonialen Vergangenheit hin zu deren gegenwärtigen Auswirkungen.

Deutschland kann nach Ansicht der Herausgeberin/des Herausgebers nicht auf eine relativ kurze und damit harmlose Kolonialgeschichte verweisen. Auch diese war grausam. Es war „eine Gewaltherrschaft, die durch eine christlich verbrämte imperialistische Philanthropie kaum abgemildert wurde.“ (S. 14)

Mit dem Begriff postkolonial verbinden Bechhaus-Gerst/Zeller kein chronologisches sondern ein kulturkritisches Verständnis. Die Vorsilbe „post“ soll keine abgeschlossene Epoche ausdrücken. Es geht ihnen sowohl um die Dekolonisierung realer, internationaler Machtverhältnisse, als auch um die Dekolonisierung der Wissens- und Deutungshoheit des Westens. Dementsprechend beantworten sie das Fragezeichen im Titel mit dem Untertitel: Sie verweisen auf die Gegenwart der imperialen Vergangenheit in den gegenwärtigen Verhältnissen. Das Fragezeichen im Titel meint, dass Deutschland faktisch eine postkoloniale Gesellschaft ist, aber dies kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert ist.

Unter Verweis auf Jürgen Osterhammel interpretieren Bechhaus-Gerst/Zeller den gegenwärtigen xenophoben Nationalismus nicht als Ausdruck neoimperialer Expansionsgedanken, sondern als Ausdruck postimperialer Abwehrhaltung. Deutschlands gesellschaftliche Mitte, so unter Berufung auf Stephan Lessenich, scheine diesem Abwehrmechanismus zu folgen, indem vor Überfremdung etc. gewarnt wird. Unter den Parolen „Afrika den Afrikanern“ und dementsprechend „Deutschland den Deutschen“ verberge sich ein völkisch rassistisches Gedankengut, so die Herausgeber. Sie widersprechen der Annahme, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, sondern befürworten eine plurale und tolerante Gesellschaft.

Der Band versammelt Beiträge zahlreicher Autor*innen unterschiedlichster Herkunft. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Ende der deutschen Kolonialgesellschaft nach dem ersten Weltkrieg und der These, dass Deutschland keine verhinderte, sondern eine verleugnete Kolonialmacht war. Es folgt im zweiten Kapitel eine Auseinandersetzung mit dem sogenannten Kolonialrevisionismus zwischen den beiden Weltkriegen, der sich auf das scheinbare Recht zur räumlichen Ausdehnung z. B. in Afrika berief und sogar von einer Rückgewinnung der nach dem ersten Weltkrieg verlorenen Kolonien träumte.

Im Kapitel drei erörtern die Autor*innen die Wirkungen des Kolonialismus bis in die Gegenwart. Aram Ziai sieht neokoloniale Verhältnisse und damit ein Fortbestehen von Machtverhältnissen und Praktiken in der globalisierten Ökonomie.

Im Kapitel vier folgt ein Bogen von der Theoriebildung hin zu praktischen Initiativen zu postkolonialen Themen in der Literatur, in den Medien usw. Monica van der Haagen-Wulff betont, dass es sich beim Postkolonialismus um ein politisches Projekt handelt. Ihr geht es sowohl um die Analyse der imperialen Expansion, als auch um Aufdeckung und Überwindung des eurozentrischen Denkens und Verhaltens. Sie plädiert für einen „Pluriversalismus“, der die Vielfalt der Menschen und deren vielfältige Erkenntnisgewinne berücksichtigt.

Genau hier sollte eine Geschichtsdidaktik in Schule und außerschulischer Arbeit ansetzen wie dies im Schlussteil dieses umfassenden und detaillierten Sammelwerks deutlich wird. Die Erinnerungskultur in Deutschland ist verständlicherweise auf die Zeit des Nationalsozialismus fokussiert. Hinzu kommen Themen der deutsch-deutschen Geschichte. Hier bedarf es einer Ergänzung des kolonialen Themas. Das historische Denken und damit die politische Bildung, wie es im Beitrag von Bernd-Stefan Grewe heißt, müsse die Unabgeschlossenheit des Kolonialismus, dessen Verständnis als mentaler Struktur und seine Wirkungen auf die europäischen Gesellschaften thematisieren. Entscheidend dabei sei die Überwindung der eurozentrischen Sichtweisen. Gerade beim interkulturellen Lernen in der Migrationsgesellschaft wäre es interessant, die Fragestellung aus dem Titel dieses Sammelwerkes an die Migrant*innen weiterzugeben: Deutschland postkolonial?