Außerschulische Bildung 4/2023

Martin Kirschner (Hrsg.): Europa (neu) erzählen

Inszenierungen Europas in politischer, theologischer und kultureller Perspektive

Der Sammelband bietet anspruchsvolle Einblicke in die vielschichtige Geschichte und Identität Europas. Verfasst wurden die Texte von vier Autorinnen und zwanzig Autoren, die fast alle Theolog*innen sind oder an entsprechenden Hochschulen lehren. Die Autor*innenliste präsentiert eine bunte, internationale Mischung von Verfasser*innen aus Deutschland, Österreich, Großbritannien, USA, Spanien, Ukraine, Belgien, Serbien und den Niederlanden. Sie umfasst Vertreter*innen verschiedener theologischer Disziplinen wie z. B. Dogmatik, Fundamentaltheologie, Praktische Theologie, Sozialethik, Mittlere und Neue Kirchengeschichte, Religionsphilosophie und Moraltheologie. Diese Vielfalt verdeutlicht die vor allem theologische, internationale und facettenreiche Ausrichtung – wenngleich die männlichen Stimmen leider mehr als deutlich überwiegen.

Teil eins des Buches, „Europa (neu) erzählen – Zur Bedeutung von Narrativen und ihrer Reformulierung“, umfasst sechs Beiträge. Hier wird die Bedeutung von Geschichtsnarrativen und ihrer Neugestaltung für das Verständnis Europas diskutiert. Die Texte werfen einen kritischen Blick auf bestehende Erzählungen und betonen die Notwendigkeit einer Neubewertung und Reformulierung historischer Narrative. Teil zwei, „Inszenierungen Europas – Zur performativen Dimension des Politisch-Theologischen zwischen Legitimationsstrategien und Protestbewegungen“, präsentiert sieben Beiträge. Dieser Teil untersucht die performative Dimension des Politisch-Theologischen. Dabei werden Legitimationsstrategien und Protestbewegungen beleuchtet und deren Rolle in der Inszenierung Europas analysiert. Teil drei, „Revisionen im Verständnis von Geschichte, Religion und öffentlicher Vernunft jenseits von christlichem Abendland und säkularer Moderne“, weist neun Beiträge auf. Hier werden neue Perspektiven auf Geschichte, Religion und öffentliche Vernunft jenseits der traditionellen Vorstellungen des christlichen Abendlands und der säkularen Moderne aufgezeigt.

In seiner Einleitung gelingt es Kirschner, die vollends eskalierende Gewalt in der Ukraine und deren Auswirkungen auf Europa in die Betrachtung einzubetten. Er beleuchtet die auch darüber hinaus komplexen Krisenlagen und betont den mutigen Widerstand der Ukraine, das Leid der Zivilbevölkerung und die Flucht vieler Ukrainer*innen. Parallel hierzu reflektiert Kirschner historische Linien und politische Konstellationen seit 1989/91, um ein umfassendes Verständnis von Europa zu entwickeln.

Margit Eckholt untersucht in ihrem Essay „Der ‚Welt‘ verpflichtet: Europa erzählen in Zeiten globaler Herausforderungen“, wie Europa in globalen Zeiten „erzählt“ werden kann. Sie hinterfragt die Möglichkeit einer vereinenden Erzählung Europas angesichts kolonialen Erbes und neo-kolonialer Geschichten, die das Leben von Migrant*innen beeinflussen. Sie argumentiert, dass Europa nur erzählt werden kann, wenn verschiedene Zwischenräume entstehen und so die Geschichten der „Anderen“ einbezogen werden. In ihrem Beitrag „Europa erzählen und weitererzählen“ betont Aleida Assmann ebenfalls, dass die EU kein gemeinsames Narrativ hat. Jedoch könne das „Erzählen Europas“ aus verschiedenen Perspektiven dazu beitragen, Menschen zu Europäer*innen werden zu lassen. Sie beschreibt die grundlegenden Prinzipien, die die Mitgliedstaaten verbinden, und betont die Bedeutung von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Reparatur angesichts globaler Veränderungen. Weitere Beiträge in diesem Teil befassen sich mit kulturellen Narrativen in Orientierungskrisen, der Rolle der Kirchen in politischen Krisen in Osteuropa und der Bedeutung von Ritualen für die europäische Identität. Die Autor*innen untersuchen auch die Herausforderungen durch populistische Bewegungen, den Einfluss der neuen Rechten auf die narrative Gestaltung Europas und die Rolle der digitalen Vernetzung.