Außerschulische Bildung 3/2021

Meltem Kulaçatan/Harry Harun Behr (Hrsg.): Migration, Religion, Gender und Bildung

Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität

Bielefeld 2020
transcript Verlag, 326 Seiten
 von Norbert Reichel

In dem von Meltem Kulaçatan und Harry Harun Behr herausgegebenen Band stellen 15 Autor*innen ihre Forschungsergebnisse vor. Harry Harun Behr leitet mit einem höchst reflektierten Essay ein. Religion ist neben „Class“, „Gender“ und „Race“ zentrales Thema gesellschaftlicher Konflikte, allerdings werden „Race“ und „Religion“ oft miteinander vermengt, indem Menschen, denen eine orientalische, konkret: arabische oder türkische Herkunft zugewiesen wird, pauschal als Muslim*innen gelesen werden.

Harry Harun Behr versteht sein Vorgehen als „das, was Frantz Fanon als ‚klinische Studie‘ bezeichnen würde. Ich blicke auf Befindlichkeiten und Befremdlichkeiten, wenn von Muslim*innen als Rasse und Ethnie, von fremden Frauen und Männern und von muslimischen Jugendlichen wie von einer entfremdeten Sozialgattung die Rede ist.“ (S. 22) Die Diagnose: „Eines der Kernprobleme in Deutschland ist (…) das Fehlen einer religionspolitischen Vision, die vonseiten der Zivilgesellschaft offen verhandelt und aktiv gestaltet werden müsste.“ (S. 26)

Wir erleben die „unselige Verschmelzung von Migrations- und Islamfragen“, eine „Verdinglichung von Muslim*innen zur sozialen Entität“ (S. 27). Die Vokabel „wir“ gilt ausschließlich für die „Gesellschaft der Ansässigen“, Muslim*innen werden ausgeschlossen, so im Masterplan Integration 2018 des Bundesinnenministeriums: „Von allen Zuwanderern erwarten wir eine Identifikation mit unserem Land und die Anerkennung unserer Werte und Lebensweise.“ (S. 28) Diese Formulierung adressiert nicht nur „Zuwanderer“, auch diejenigen, die schon lange in Deutschland leben und von denen viele einen deutschen Pass haben.

Die durchgehende Abwertung und Exklusion von Muslim*innen – anlässlich der beunruhigenden Ergebnisse der Bielefelder Mitte-Studien und der Leipziger Autoritarismus-Studien könnte man von Muslim-Bashing sprechen – begann 2011 mit dem Buch vom sich abschaffenden Deutschland, das als Testlauf gelesen werden kann, „wie weit man mit der Absage an den Anstand gehen kann, was der Öffentlichkeit zumutbar ist, mit welchen Kaskadeneffekten zu rechnen ist und ab welchem Gradienten des Unaussprechlichen der mögliche Widerstand aus der bürgerlichen Mitte wahlgefährlich wird.“ (S. 58 f.) Die Kölner Silvesternacht wirkte als Brandbeschleuniger, der AfD gelang muslimfeindliches Agendasetting, dem auch andere Parteien verfielen.

„Tribalisierung“ (S. 55) verhindert Integration: Die Ausgeschlossenen spiegeln die Praxis rechter Parteien und Gruppierungen, die „Rassismus und Islamophobie als die scheinbar legitime Stimme des Widerstands von unten“ inszenieren. Als ohnehin Ausgeschlossene verkapseln sie sich in einem „retrodoxen“ Verständnis ihrer eigenen Religion (S. 56). Stereotype setzen sich fest, beispielsweise – so Yasmin Karakaşoğlu – in Form des „im kollektiven Gedächtnis verankerten Stereotyps über Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund“ (S. 87).

Einerseits inszenieren sich rechtspopulistische Politiker*innen als diejenigen, die Frauenrechte gegen muslimisch gelesene Männer verteidigen, andererseits äußern sie sich selbst sexistisch. Sie rahmen das Thema Religion im Kontext Sicherheit. Andrea Petö belegt dies am Beispiel des in Ungarn feststellbaren „securitizing all possible aspects of life“ (S. 154). Christine Harz konstatiert, dass Muslim*innen und alle als solche gelesenen Menschen nur in einem sehr engen „Themenrahmen“ wahrgenommen werden, es geht um „‚Kriminelle Flüchtlinge‘, und nicht etwas völlig anderes, (sagen wir ‚neue Freundschaften zwischen syrischen und deutschen Kindern‘) – egal ob sie dem Gesagten zustimmen, ihm ambivalent gegenüberstehen oder es ablehnen.“ (S. 199) In diesen Rahmen wirken auch die Metaphern der Zuwanderung als „Naturgewalt“ (S. 187).

Und die Schulen? Yasmin Karakaşoğlu: „Der Islam und die Muslime werden im Kontext von Schule vielfach als Verursacher*innen von mit pädagogischen Maßnahmen allein nicht mehr zu bewältigenden gesamtgesellschaftlichen Problemanzeigen verstanden.“ (S. 83) Harry Harun Behr fordert eine „Intersektionale Schulreform“ (S. 69), denn muslimische Schüler*innen werden von Pädagog*innen ebenso wie von den einschlägigen Wissenschaftler*innen generell als „soziales Kollektiv“ betrachtet, Bildung wird auf die „Präventionslogik von Geldgebern für die Forschung“ reduziert. Die jungen als „Muslim*innen“ geprimten Menschen haben kaum eine Chance, dieser Falle zu entkommen. Das ihnen auferlegte pädagogische Programm lautet „Erziehung zu Angepasstheit bei gleichzeitiger Anhebung der Schwelle zur Teilhabe an der Mittelschicht“. (S. 47) Frank van der Velden schlägt vor, dieses Dilemma über ein Toleranznarrativ in den Lehrplänen zu lösen, das sich an der bosnisch-herzegovinischen Initiative „Places of Suffering“ orientiert (S. 303 f.).

Dr. Norbert Reichel, Literaturwissenschaftler und Pädagoge, betreibt seit 2019 als freier Autor den Blog „Demokratischer Salon“ (www.demokratischer-salon.de).