Eine deutsche Debatte
Kiepenheuer & Witsch, 216 Seiten
„In der deutschen Öffentlichkeit Position zu Israel zu beziehen, kommt mir manchmal wie die Kunst des Seiltanzes vor.“ (S. 134) – Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences und zeitweise Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Fachzeitschrift, traut sich auf das Seil und schreibt ein Buch über das Verhältnis Deutschlands zu Israel. Er tut dies als Israeli und als Deutscher, d. h. der analytische und differenzierte Blick ist beeinflusst von persönlichen Erfahrungen in beiden Ländern. Er ist nah dran – sowohl an den Entwicklungen in Israel als auch an den politischen Diskursen und gesellschaftlichen Debatten in Deutschland.
Meron Mendel ist bekannt als ein Intellektueller, der sich einmischt, sei es, wenn es um die BDS-Bewegung geht, um die Äußerungen des kamerunischen Historikers Achill Mbembe, um die mögliche Förderung der antidemokratischen Desiderius Erasmus Stiftung aus Steuermitteln oder um die Antisemitismusvorwürfe im Zusammenhang mit der documenta fifteen. Zudem setzt er zusammen mit dem Team der Bildungsstätte Anne Frank immer wieder klare Zeichen gegen Ausgrenzung, Rassismus und Eindimensionalität.
Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Essay zu lesen, der seit Mitte März auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und im April auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste steht. Mendel verfolgt die deutsch-israelische Beziehung über die Jahrzehnte, sowohl was die offizielle politische Haltung (Westdeutschlands) betrifft als auch die verschiedener (politischer) Gruppierungen. Mendel konstatiert für die neueren Diskurse über Israel unterschiedliche Einflüsse wie das Erstarken der nationalistischen und rechtsextremen Kräfte in Israel (was bedeutet „Staatsräson“, wenn in Israel rechtsextreme Minister im Amt sind?), die zunehmend diverser werdende deutsche Gesellschaft (die eine diversere Erfahrungswelt in die Diskussion bringt) oder auch ein wachsendes postkoloniales Selbstverständnis, im Zuge dessen Israel immer wieder „als Produkt des europäischen Kolonialismus“ (S. 32) verurteilt wird. Mendel zeigt schonungslos die Fallen, in die die unterschiedlichen Gruppen z. B. von „Israelfreunden“ tappen (siehe die Haltung der Springer-Presse, S. 54 ff.), und macht deutlich, warum der Generalverdacht des Antisemitismus bei jeder kritischen Äußerung zu Israel wenig zielführend ist.
Der Band ist in vier Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel geht es um die Entstehung des deutschen Blicks auf Israel. Warum gehört der Schutz Israels zur deutschen Staatsräson? Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den hitzigen Debatten über die BDS-Bewegung. Die Rolle der Linken, für die die Positionierung zur Israel-Palästina-Frage identitätsstiftend ist, wird im dritten Kapitel thematisiert. Das vierte Kapitel widmet sich dem zweiten Historikerstreit und der „hartnäckig(en) Vorstellung, (…) die deutsche Erinnerung an den Holocaust (verhindere) die Empathie für Opfer der Kolonialherrschaft“ (S. 178).
Meron Mendel unterlegt seine Aussagen mit großem Detailwissen, untermauert durch seine persönlichen Erfahrungen als linker Israeli, deutscher politischer Bildner und Historiker. Das macht den vorliegenden Band zu einem besonders lesenswerten Sachbuch.
„Die leidenschaftlichsten Unterstützer der israelischen und der palästinensischen Sache leben in Deutschland – aber die meisten von ihnen haben nicht die leiseste Ahnung von der Situation vor Ort.“ (S. 27) Dieses Zitat steht für eine wichtige Grundaussage des Autors: Viele Diskussionen sind geprägt von festgefahrenen Überzeugungen und der Unfähigkeit, die Perspektive der anderen anzuhören und deren Beweggründe zu verstehen. Die Qualität des politischen Streits steht in Frage.
Auch die Autorin dieser Zeilen kann von sich nicht behaupten, sie hätte eine Ahnung von der Situation vor Ort, aber immerhin gehört sie zu den 7 % der deutschen Bevölkerung, die schon einmal in Israel waren. Was bei diesem Besuch deutlich wurde und seitdem über die Jahre nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist: Es gibt keine einfachen Lösungen, kein schwarz-weiß, keine eindeutig richtigen oder falschen Positionen. Ein Beginn wäre, einander zuzuhören und ins Gespräch zu gehen. Oder, um mit Meron Mendel zu sprechen: Es wäre wichtig, zuerst zu fragen, „was Palästinenser und Israelis konkret brauchen, um ihren Konflikt zu beenden oder – noch realistischer – um ihn erst einmal einzudämmen.“ (S. 76) So wünscht er sich am Ende seines Essays, dass „in Zukunft die Friedensarbeit im Mittelpunkt der deutsch-israelischen Beziehung stehen wird“ (S. 185).
Meron Mendel zeigt als „Wanderer zwischen den Welten“ wie wichtig es ist, im politischen Streit alle Perspektiven einzubeziehen und das verfestigte Lagerdenken aufzubrechen. Dieses Prinzip, das in diesen Zeiten leider immer wieder verloren geht, lässt sich auf alle aktuellen Debatten übertragen: „sich von einfachen Deutungsmustern verabschieden und Mehrdeutigkeit aushalten“ (S. 147). So ist dieses gut lesbare, kluge und unaufgeregte Buch auch in dieser Hinsicht für die politische Bildung eine wertvolle Anregung und kann nur wärmstens empfohlen werden.