Außerschulische Bildung 4/2020

Naika Foroutan: Die postmigrantische Gesellschaft

Ein Versprechen der pluralen Demokratie

Bielefeld 2019
transcript Verlag, 279 Seiten
 von Norbert Reichel

Der erste Satz diagnostiziert: „Die deutsche Gesellschaft ist polarisiert.“ Die gesellschaftlichen Debatten zeugen von „Gereiztheit“, es gibt „eine teilweise dystopische Stimmung (…) in akutem Identitätsstress.“ Als Ursachen gelten u. a. „Globalisierungsängste“, „Elitenkritik“, „Islamisierungsängste“ (S. 11 f.).

Naika Foroutan bietet einen ausgezeichneten Überblick über Forschungslage und politische Debatten aus der Perspektive des Themas „Migration“, die „nach demographischen Parametern zu einem Wesensmerkmal der gesellschaftlichen Realität geworden“ ist. (S. 73) Sie möchte die Bedeutung des Themas relativieren, denn „die große Gereiztheit liegt vielmehr daran, am eigenen Anspruch einer weltoffenen, aufgeklärten Demokratie zu scheitern. Die Migration ist dabei der Spiegel, in dem wir diese Gewissheit erkennen: Wir sind hässlich geworden und wir schieben die Wut auf den Boten, der uns das übermittelt.“ (S. 13)

Die Autorin definiert den Begriff des „Postmigrantischen“ neu, den Shermin Langhoff im Berliner Ballhaus Naunynstraße eingeführt und popularisiert hatte. „Das Postmigrantische verweist auf eine stetige Hybridisierung und Pluralisierung von Gesellschaften, die zwar nicht allein durch Migration erzeugt, jedoch an ihr entlang verhandelt werden.“ (S. 49) Ihr geht es nicht um das (Selbst-)Bewusstsein der zweiten und dritten Generation ein- und zugewanderter Menschen, sondern um das unerfüllte Gleichheitsversprechen demokratischer Gesellschaften. „Die Gesellschaft scheitert nicht an der Migration – sondern post-migrantisch: am Umgang mit der Gleichheitsfrage, die durch die Migration pars pro toto gestellt wird.“ (S. 215)

Es geht um „Pluralität“ und die Auflösung von Hierarchien zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nicht nur zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen, auch zwischen Männern und Frauen, West- und Ostdeutschen, Stadt- und Landbewohner*innen. „Pluralität“ und die damit verbundene Anerkennung der Rechte von Minderheiten sowie soziale Gleichheit sind somit zwei Seiten derselben Medaille.

Solange Migrant*innen sich unterordnen, werden sie akzeptiert. Ein gängiges Beispiel ist das Kopftuch, das bei Putzfrauen nicht problematisiert wird, wohl aber bei Frauen, die in der sozialen Hierarchie aufsteigen möchten. (S. 96 ff.) „Wenn diese ‚neuen‘ Deutschen aufsteigen, in Führungspositionen gelangen, ihre Kinder Bildungsaufstiege verzeichnen und sie die Popkultur, Politik und Zivilgesellschaft mitprägen, dann führt das nicht automatisch zu einer Erhöhung von Akzeptanz. Vielmehr kann das mit Konkurrenz- und Verteilungskampf einhergehen und weitere soziale Spannungen erzeugen.“ (S. 156)

Diese Entwicklung nennt Naika Foroutan u. a. in Anlehnung an Axel Honneth ein „normatives Paradox“. Die plurale Demokratie verspricht Gleichheit, die sie „empirisch nachweisbar nicht gewährt“ (S. 23). „Dieses wirkt auf die migrantischen Kinder demotivierend, behindert Aufstiegsträume und führt zu Abkapselung. Gleichzeitig wird dagegen rebelliert. Das normative Paradoxon erzeugt somit eine Spannung in der postmigrantischen Gesellschaft.“ (S. 88) „Anti-Liberalität“ wird mehrheitsfähig, weltweit (S. 14 ff.) und in Bestätigung des Tocqueville-Paradoxes unabhängig davon, ob der Wohlstand steigt (S. 27 f.). „Die Maxime scheint also weniger ‚Gleichheit für alle‘ (…) zu sein als vielmehr ‚Mehr Gleichheit für mich und meinesgleichen und weniger für die Fremden und ihre Kinder!‘“ (S. 170 f.)

Das „normative Paradox“ ließe sich auflösen, wenn wir lernten, besser mit „Ambivalenz“ und „Uneindeutigkeit“ umzugehen. Naika Foroutan bezieht sich u. a. auf Thomas Bauer und Jürgen Habermas, „Pluralität“ nicht „als Unordnung“ (S. 116), sondern als Chance zu verstehen: „Jene, die mit der Hybridisierung und Ambivalenz besser umgehen können, sind auch stärker bereit Pluralität progressiv zu begreifen, während die gleiche soziale Realität anderen Angst macht oder aggressiv abgewehrt wird.“ (S. 123)

Zu wünschen wäre die Entwicklung von „Allianzen der Mitte“, die es in der Zeit der sogenannten „Willkommenskultur“ gab (S. 209 f.). Abschottung und Exklusion gefährden die Demokratie. Sie schüfen allenfalls das, was Amyrtya Sen „pluraler Monokulturalismus“ nannte.

Angesichts der absehbaren Klimaveränderungen und einer aggressiven Ausbeutungspolitik der Länder des Südens durch die wirtschaftlichen Großmächte USA, Europäische Union und China erleben wir zurzeit nur Vorboten der Migrationsbewegungen und Verteilungskämpfe der Zukunft. Viele Migrant*innen erreichen nur andere Regionen ihres Landes, manche ihr Nachbarland, eine geringe Zahl Europa, die USA, Kanada, Australien, Neuseeland. Das, was zwischen Staaten auszuhandeln ist, gilt für jeden einzelnen Staat und umgekehrt. Liberalität ist unteilbar. Das „normative Paradox“ bleibt, der Weg zur „Ambiguitätstoleranz“ (Thomas Bauer) ist noch lang.