Außerschulische Bildung 2/2023

Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung

Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus

München 2022
Hanser Verlag, 256 Seiten
 von Norbert Reichel

Dieses Buch ist vielleicht das beste Buch, das ich in den letzten Jahren zu dieser Debatte gelesen habe. Natan Sznaider versteht es als „Essay“, Versuch einer Annäherung. Ihm geht es im Sinne von Karl Mannheim „darum, die gesellschaftliche Funktion von Theorien zu verstehen“ (S. 32), so die Funktion der letztlich politischen Debatte um das Verhältnis zwischen der Erinnerung an Shoah und Kolonialismus. Natan Sznaider spricht von einer „kolonialistische(n) Wende in den Holocaust-Studien“ (S. 140): „Welche Minderheiten nun zur universalen Kategorie werden, das ist wohl eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts.“ (S. 10) Sein Fazit: „Der Holocaust kann durchaus aus kolonialistischen Strukturen verstanden werden, aber gleichzeitig auch singulär sein. Das ist kein Widerspruch, sondern ein Versuch, sich aus der Binarität des Denkens zu befreien.“ (S. 209)

Das Buch besteht aus zwei Kapiteln: „Leben in und mit der Unmöglichkeit“ und „Fluchtpunkte der Erinnerung“. Das erste Kapitel bietet eine Übersicht über die Positionen Karl Mannheim, Hannah Arendt, Claude Lanzmann und Frantz Fanon, Albert Memmi und Edward Saïd, darüber hinaus zitiert werden Aimè Césaire, W.E.B. Du Bois, Maxime Rodinson, Michael Rothberg, Michael Walzer und Jürgen Zimmer. Das zweite Kapitel enthält drei Essays über Israel und Deutschland sowie zusammenführend: „Das doppelte Bewusstsein: Rassismus und Antisemitismus“. Zum Abschluss: 25 Seiten Bibliographie, 21 Seiten Fußnoten und ein Personenregister.

Den Begriff des „doppelten Bewusstseins“ entlehnt Natan Sznaider W.E.B. Du Bois, der „die Sichtbarkeit der Hautfarbe als eine Grundkategorie des schwarzen Bewusstseins“ verstand. Schwarze Menschen sind „durch die Hautfarbe überbestimmt“ (S. 95) „Auch beschäftigte ihn die Frage, ob man gleichzeitig schwarz und amerikanisch sein könne.“ Dies ist die Frage von Assimilation oder Emanzipation, wie sie Hannah Arendt sah: „Sie hat das Problem der schwarzen Bevölkerung in den USA wohl unter den Vorzeichen der jüdischen Frage gesehen. Und da sie strikt gegen die Assimilation der Juden in Europa war, so glaubte sie in der liberalen Integrationspolitik die Politik der Assimilation zu erkennen. Sie dachte weder liberal noch konservativ, sondern sah die Welt ständig mit jüdischen Augen.“ (S. 80)

Natan Sznaider vermutet, dass die Gleichzeitigkeit der Entstehung des Zionismus und des Pan-Afrikanischen Kongresses kein Zufall gewesen sei, was auch die Bezeichnung von dessen Ziel als „Black Zionism“ belege. Bedeutend sei die gemeinsame Unterschrift von Claude Lanzmann und Frantz Fanon unter das Manifest der 121 vom September 1960 zur Solidarität mit den aufständischen Menschen in Algerien.

Fern jeder Polemik analysiert Natan Sznaider präzise die Wege und Irrwege einer Debatte, die in Deutschland erst virulent wurde, als die eigene kolonialistische Vergangenheit nicht mehr übersehen werden konnte. Eine wichtige Rolle spielten die Debatten um die Rückgabe gestohlener Kulturgüter, das Humboldt Forum, den Louvre, das British Museum. Deutschland profitiert von diesen Debatten, denn über die Entdeckung der Verbrechen der kolonialen Vergangenheit wurde es „ein ‚normales‘ europäisches Land“ (S. 192).

Israel wurde zum Elefanten im Raum (Meron Mendel). Der „Zionismus“ war die eine Lösung, „Diaspora-Nationalismus“ die andere, doch die Nazis sorgten dafür, dass nur noch eine Lösung verblieb. Dies wiederum provozierte die Frage, welche Rolle Juden im Nahen Osten spielten und spielen sollten. „Sind Juden überhaupt Europäer oder vielleicht doch Fremde in Europa (…)?“ Ab 1933 veränderte sich der Kontext: „Jüdische Einwanderer hatten keine andere Wahl als Palästina, aber sie blieben dort Fremdlinge und mussten das Land mit Gewalt erobern und verteidigen.“ (S. 68)

Schuldabwehr, Entlastungsdiskurse, Schlussstrichforderung? „Wenn der postkolonialistische Diskurs fordert, von der Holocaust-Erinnerung unbeeindruckt, die Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel aufzukündigen, dürfte dann auch Beifall aus jenen Ecken kommen, die sonst mit Postkolonialismus wenig zu tun haben. Am Ende begegnen sich damit geschichtsrevisionistische Diskurse, die sich von verschiedenen Beschreibungen der Wirklichkeit aus aufeinander zubewegen.“ (S. 187)

Die Singularität der Shoah, des Holocaust, ist letztlich auch eine philosophische Frage. Claude Lanzmann betont die „Unvergleichbarkeit, er weigert sich, den Holocaust über die Vorstellung eines universalen Bösen oder andere vergleichende Kriterien verstehen zu wollen.“ Natan Sznaider zitiert ihn: „Es handelt sich hier im ureigenen Sinn um ein Verbrechen gegen die menschliche Natur; die Ermordung jedes einzelnen Juden war ein gegen das Sein des Menschen gerichtetes metaphysisches Verbrechen.“ Aus dieser Einzigartigkeit lässt sich die „Ausübung institutionalisierter Gewalt“ in Israel nach wie vor erklären. Sie ist wahrscheinlich – so Claude Lanzmann „die einzige Gewähr, wirklich die einzige für jenes ‚Nie wieder‘“ (S. 92 und S. 189 f.). Anders gesagt: Nie wieder wehrlos!

Norbert Reichel ist promovierter Literaturwissenschaftler und Pädagoge. Er betreibt das Internetmagazin „Demokratischer Salon: Argumente zur historisch-politischen Bildung“ (www.demokratischer-salon.de).