Warum nicht alle alles sagen dürfen
Beltz Juventa, 233 Seiten
Die Debatten um gendersensibles Sprechen und Schreiben oder um die Ansprache von migrantisch markierten Personen stehen exemplarisch für das Thema um Political Correctness (PC). Dass diskriminierungskritisches und spezifisch gendergerechtes Sprechen und Handeln in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs Eingang findet bzw. finden soll, löst(e) in einigen Teilen der Gesellschaft verschieden begründetes Unverständnis und auch gewaltigen Widerstand aus. Die als Titel formulierte Hauptthese von Nina Degele, warum nicht alle alles sagen dürfen, prononciert diesbezüglich die Notwendigkeit eines sprachsensiblen Umgangs miteinander aus „einer solidarisch distanzierenden Positionierung – weil Political Correctness eine Nicht-Positionierung unmöglich macht“ (S. 20 f.).
Die essayistische, kritisch-reflektierte Darlegung der Historie von, Auseinandersetzungen mit und Positionen zu PC nimmt neben den drei Ungleichheitsdimensionen gender, race und class ebenfalls das sprachbedingte Potenzial zur Gewalt, wie es sich aktuell im digitalen Raum in Form von hate speech äußert, bis hin zu rassistisch motivierten Anschlägen wie in Hanau, sowie das Konzept der Identitätspolitik in den Blick. Die Themenbereiche werden in acht Kapiteln besprochen, wobei es immer Überschneidungen und Verknüpfungen einzelner Aspekte gibt, was die Komplexität der Debatte um PC aufgrund der Verwobenheit verschiedener Diskriminierungsformen angemessen zum Ausdruck bringt.
Zu Beginn bestimmt Degele PC als Korrektheitshandeln, in dem das Denken, Sprechen und Handeln kongruent zueinanderstehen, d. h. die eigene Haltung und eigenen Voraussetzungen reflektiert, sich an anerkennende Sprachcodes orientiert und das Handeln auf das Gesagte abgestimmt wird. Ziel ist es, ein gesellschaftliches Miteinander zu ermöglichen, in dem die Sichtbarkeit und Anerkennung benachteiligter, von Diskriminierung betroffener Menschen zu fördern, welches wiederum eng mit einer gesellschaftlichen Ungleichheitsanalyse zusammenhängt. Allerdings läge hier ein Antagonismus von PC, einerseits „zu einer Zivilisierung gesellschaftlicher Diskurse beitragen zu wollen, damit aber geradezu zwangsläufig auch Streit zu provozieren und zu produzieren“ (S. 21), was für die Entwicklung der Gesellschaft letztendlich kontraproduktiv ist. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Zivilisierung und Polarisierung ist für das Korrektheitshandeln grundlegend.
In dem historischen Abriss stellt die Autorin Überblick gebend dar, wie PC eine Bedeutungsverschiebung vollzog. So wurde der Begriff zunächst als Adjektiv innerhalb der community mit positiver Wertung verwendet und daraufhin angetrieben von negativen Berichterstattungen und Gegner*innen ironisiert, verpönt und diskreditiert, was zu der Folge hatte, dass „(n)icht Rassismus, Sexismus o. ä. als die eigentlichen Gefahren gesehen (wurden), sondern Denkpolizei, Sprachhegemonie und Tugendwahn“ (S. 34). In Deutschland umfasst der Begriff zusätzlich den „richtige(n) Umgang mit der eigenen kollektiven Vergangenheit“ (S. 37) sowie die Forderung nach historischer Korrektheit. Hiermit ist ebenfalls die Reflexion des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs verbunden, der durch den autoritären Nationalradikalismus wieder aufkeimt. Auch bei expliziter Positionierung gegen PC, wie es Trump oder die AfD häufig tun, ist weniger der diskriminierende Inhalt Gegenstand von Diskussionen. Vielmehr wird politisch unkorrekt sein mit dem Mut gleichgesetzt, „die Wahrheit“ auszusprechen, wobei „(d)ie permanente Wiederholung bei Nicht-Sanktionierung zur Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen nach rechts (führt)“ (S. 122).
In Bezug auf race greift Degele beispielsweise die Diskussionen darum auf, wie Rassismen auf welche Weise wirken und welche Ansprüche auf Korrektheitshandeln in welchen Kontexten an wen gestellt werden. So ist mit Blick auf PC von vornherein festzuhalten, dass „Rassismus nicht mit sprachlicher Hetze und hate speech beginnt, sondern viel früher, bei ausgrenzendem und Anerkennung verweigerndem Sprechen“ (S. 57). Mit welchen Herausforderungen PC zusammenhängen kann wird auch im Hinblick auf die Diversität sexueller Identitäten deutlich. Eine Sensibilität dafür scheint unmöglich, da jede*r unterschiedliche Voraussetzungen und Ressourcen hat, um auf den aktuellen Stand gendersensibler Bezeichnungen zu kommen. An diesem Kritikpunkt wird die Akademisierung sozialer Fragen am deutlichsten, die sich an die Diskurse zu sozioökonomischen Ungleichheiten anbinden und intersektional betrachten lässt. Das Buch endet mit einem Plädoyer für politisch korrektes Handeln, wofür Kriterien ausgelotet und diskutiert werden. Grundsätzlich sollte gelten: „nicht nach unten treten“ (S. 175).
Zusammenfassend eröffnet das Buch eine differenzierte Perspektive auf das kontrovers diskutierte Thema unter Einbeziehung verschiedener Ungleichheitsdimensionen. Mit der Förderung einer solidarischen Streitkultur kommt die politische Bildung ins Spiel, die Räume dafür schaffen kann, marginalisierte Stimmen sichtbar zu machen, sensiblen Sprachgebrauch stets neu auszuhandeln und ein demokratisches Zusammenleben in einer Vielfalt von Identitäten und Stimmen zu ermöglichen.