Außerschulische Bildung 3/2022

Parag Khanna: Move

Das Zeitalter der Migration

Berlin 2021
Rowohlt, 466 Seiten
 von Norbert Reichel

Der in Kanpur (Indien) geborene Politikwissenschaftler Parag Khanna arbeitete u. a. als außenpolitischer Berater der Präsidentschaftskampagne von Barack Obama und schreibt in US-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt zurzeit in Singapur. In „Move“ bietet er Szenarien in Folge einer Erwärmung des Planeten Erde um 4 Grad Celsius.

Eindrucksvoll ist die doppelseitige Karte: „Die meisten Gletscher der Himalaya-Region sind geschmolzen, mit Folgen für die vielen großen Ströme. Bangladesch ist weitgehend verlassen, auch der Süden Indiens, Pakistan und Afghanistan, isolierte Gemeinschaften halten sich in Nischen.“ Ähnliches geschieht in Afrika, in Südchina, in Südeuropa, im Südwesten der USA, in der Amazonas-Region. Dichte Hochhausstädte in Skandinavien, Großbritannien, Nordrussland, Grönland, Neuseeland und der westlichen Antarktis haben Menschen aufgenommen, die ihre unbewohnbar gewordenen Länder verlassen mussten. Polynesien liegt unter dem Meeresspiegel. Kanada und Sibirien werden zu fruchtbaren Agrarregionen, rund um das Mittelmeer und im Norden der Karibik entstehen riesige Solarparks zur Energieerzeugung (S. 244 f.). „Kanada wird sich zu einem der Hauptgewinner des Klimawandels entwickeln (soweit man hier überhaupt von ‚Gewinnern‘ sprechen kann), während Australien einer der Verlierer sein wird.“ (S. 286)

Parag Khanna verfolgt seine Szenarien in 15 Kapiteln. Er beginnt mit der These „Mobilität ist Schicksal“ und endet mit der Vision einer „Zivilisation 3.0“. „Die Städte werden physisch und politisch modernisiert werden müssen, um den Bedürfnissen der Jugend gerecht zu werden: erschwinglicher Wohnraum, günstiger Nahverkehr, begrünte Bereiche und ein liberaler Lebensstil.“ (S. 382) Die Zukunft, das wären „Mehrfamiliengemeinschaften“ (S. 383), eine Welt „des digitalen Kommunitarismus“ (S. 384). Es könnte gelingen, die Menschen, die ihre Länder wegen der unerträglich gewordenen klimatischen Bedingungen verlassen müssen, zu ernähren und ihnen Wohnraum zu geben. Entscheiden werden die Aufnahmestaaten, von denen viele zumindest zunächst nicht die Chance erkennen werden, wie sie von Migranten profitieren können.

Die Staaten müssen ihre „massiven demographischen Ungleichgewichte in den Griff (…) bekommen“ (S. 306). China ist ein Land, das dringend „mehr Menschen“ braucht, „und zwar schnell“. Dies hängt mit der Überalterung in Folge der lange geltenden Ein-Kind-Politik zusammen, Altenpflege wird bereits jetzt ein zentraler Sektor. China regelt diesen Bedarf mit einem „massiven Import von Frauen“ aus Nachbarstaaten, auch als Bräute. „Ob sie nun eigene Kinder haben werden oder nicht, ihre Hauptaufgabe wird es sein, sich um die Eltern des Gatten zu kümmern.“ (S. 305)

Andere Szenarien: China hat einen enormen Trinkwassermangel und daher kein Interesse, das im Himalaya vorrätige Wasser zu teilen. Konflikte sind die Folge. Parag Khanna denkt solche und andere Szenarien für fast jedes Land des Planeten bis zum bitteren Ende. Sicherlich gibt es eine Fülle von digitalen und technologischen Lösungen, aber letztlich steht und fällt alles mit der Frage nach der Akzeptanz von Migration. Geht beispielsweise ein Land – wie Nigeria – gegen Schlepperbanden vor, verlieren diese ihre Existenzgrundlage und machen sich selbst auch auf die Reise nach Norden. Die Akzeptanz im Norden dürfte sinken.

Die meisten Migranten erreichen zurzeit nur Nachbarländer, sie „kommen nicht sonderlich weit – noch nicht“ (S. 40). Es wird nicht weniger Migration geben, sondern mehr, weitere Staaten werden zerfallen. Auch dem ließe sich entgegenwirken. Erforderlich wären „3D-gedruckte Wohnanlagen“, „mobile Krankenstationen“, „Arbeitsplätze im Ausbau der Infrastruktur, in urbaner Landwirtschaft oder zur Installation von Solarpanelen“ (S. 275 f.) „In den kommenden zehn Jahren werden wir entweder erleben, dass solche Innovationen erheblich ausgeweitet werden, oder es wird zu massenhaften Revolten gegen Marginalisierung und Unterdrückung kommen. Es gibt noch ein drittes Szenario: der Massenexodus, wenn Millionen von Menschen in Städte fliehen, die näher an Rohstoffvorkommen und in höheren Lagen liegen. Welches Szenario wird eintreten? Alle drei.“ (S. 276)

Ebenso wahrscheinlich sind Unruhen, die einen wirksamen Umgang mit dem Klimawandel be- oder sogar verhindern werden, vor allem dort, wo viele junge Menschen leben. „Wohl keine zwei Faktoren kündigen eindeutigere zivile Unruhen an als eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine hohe Ungleichheit; beide zusammen – und dazu etliche Waffen – ergeben ein Pulverfass. Junge arabische Dschihadisten, europäische Neonazi-Milizen, russische Söldner, brasilianische Straßenbanden in den Favelas, mexikanische Drogendealer, afrikanische Rebellengruppen – sie alle setzen sich aus Männern und Jungs der Millennials und der Generation Z zusammen, die nichts Besseres zu tun haben.“ (S. 125)

Ist das Buch ein optimistisches oder ein pessimistisches Buch? Die Antwort des Autors: Die Fakten liegen auf dem Tisch.

Dr. Norbert Reichel, Literaturwissenschaftler und Pädagoge, betreibt seit 2019 als freier Autor den Blog „Demokratischer Salon“ (www.demokratischer-salon.de).